© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Konfuzius in Weimar
Der altlinke Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff empfiehlt Goethe als Patron der alternativen Moderne
Manuel Wilke

Selbst unter 150prozentigen Gutmenschen dürfte der seit 1999 emeritierte Berliner Politologe Ekkehart Krippendorff als habituell „overdressed“ gelten. Gibt es doch kein linkes Klischee, das seine Biographie nicht im Übermaß bedienen könnte. Selbstverständlich ist er Pazifist, gibt dem Auswärtigen Amt den Rat, aus der Geschichte auszusteigen, bekennt sich als Vegetarier, wählte eine Jüdin zur Frau und frohlockt, die Söhne verstünden sich als Juden und die Enkel seien der deutschen Sprache kaum mehr mächtig.

Krippendorff nennt auch die obligatorische Datsche in der Toskana sein eigen, schreibt für einschlägige Gazetten wie Freitag, taz oder Neues Deutschland. Die Eltern traten der NSDAP bei, Vatern eher als Mitläufer, aber Muttern als heiß entflammte „Nazisse“. Da gab’s dann für Jung-Ekkehart erfreulich viel zu „bewältigen“. Auch deshalb mag er Richard Wagner nicht, und außerdem sei schließlich Adolf Hitler dessen „Vollstrecker“ gewesen.

Folglich rühmt er „Wolfgang Amadé Mozart“ als seinen „musikalischen Hausgott“. Und nie beschlichen den heute fast 80jährigen Zweifel an der Sponti-Weltformel „Keine Macht für niemand“, die Hörsäle der Freien Universität zierte, als Krippendorff 1978, aus dem kommunistischen Bologna kommend, seine akademische Laufbahn in Berlin fortsetzte.

In seiner 2012 passenderweise im Verlag „Graswurzelrevolution“ publizierten Autobiographie „Lebensfäden“ ist dieses in den Wonnen linker Gewöhnlichkeit ausgekostete, vom deutschen Steuerzahler alimentierte Beamtenleben eines „Antideutschen“ in aller Ausführlichkeit geschildert. Es ist kein literarisches Glanzstück, langweilt mit Selbstgefälligem und ist hauptsächlich exemplarisch zu verwerten, um den hochgradigen Konformismus zu studieren, wie er linksintellektuellem Bewußtsein in der alten Bundesrepublik eigen war und wie er sich bis heute konserviert hat.

Ungleich prickelnder wird die Lektüre jedoch, wenn man das einzige Kapitel des Buches liest, in dem der Autor aus der Rolle fällt, nämlich das über „Universitäten“. Nur ist es schwer zu verstehen ohne einen anderen „Lebensfaden“, der aber frappierenderweise allein in Andeutungen vorkommt: Goethe. Einen ersten Zugang zum Dichterfürsten eröffnete ihm der konservative Remigrant Arnold Bergstraesser in der Freiburger Ordinarien-Universität der 1950er Jahre. Seitdem verfügt dieser Politologe innerhalb seiner Alterskohorte – und im Vergleich mit den jüngeren und jüngsten Kollegen sowieso – über ein Alleinstellungsmerkmal: umfassende Bildung.

Die Liebe zu Goethe hat diesen „Pionier der Friedensforschung“ in der Schlußphase seiner Amtszeit tatsächlich zum Außenseiter unter Dahlemer Dozenten gestempelt. Da half es auch nicht, den „politischen Goethe“ so glattzuschleifen, bis er sich als Patron der „alternativen Moderne“ empfahl.

Immerhin ergeben Krippendorffs Anstrengungen, von denen zuletzt ein Essay über Goethes „Dichtung und Wahrheit“ als Lehrbuch politischer Kultur zeugt (Lettre International, 99/2012), inzwischen das kompakte Bild eines Geistesheroen, der als „Lehrer der Menschheit“ reaktiviert werden soll. Vielleicht ist Krippendorff sogar ein Wiedergänger Goethes, holt er doch aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit der aktivsten Weimarer Ministerzeit (1776–1786), was zum eisernen Fundus der eigenen Weltanschauung gehört: die Option für den Klein- und gegen den Nationalstaat, die Aversion gegen Militär und Krieg, gegen „Machtpolitik“, „große Projekte“ als „Gehäusen des Unwahren“, für eine „verantwortliche“ Politik als „gelebte Sittlichkeit“ im Sinne des so weisen wie erfolglosen Fürstenberaters Konfuzius, den Krippendorff zusammen mit Goethe zu den „maßgebenden Menschen“ (Karl Jaspers) rechnet. Auch sei der junge Staatsdiener und Menschenfreund ein Vorläufer ökologisch eingebetteten Wirtschaftens, ein Feind der aufkommenden kapitalistisch-industriellen Moderne gewesen, soweit sie dem Bezugssystem materialistischen Effizienzdenkens und dem Geist der „Ausbeutung“ von Mensch und Natur verhaftet bleibe.

Auf diesen kraß aktualisierten Minister des Duodezstaates von Sachsen-Weimar-Eisenach beruft sich Krippendorffs Plädoyer für ein „Europa der Regionen“ und „gegen Maastricht“. Historisch trägt solche Argumentation nicht weit, wie er der von ihm beharrlich ignorierten Studie des Thomas-Mann-Bibliographen Hans Bürgin hätte entnehmen können, der schon 1933 in seiner Dissertation über „Goethe als Minister“ den Weimarer Geheimrat von der „Zukunftslosigkeit des Kleinstaates“ überzeugt sein ließ.

Inspiriert wurde Bürgin von seinem Doktorvater Friedrich Wolters, dem Majordomus des George-Kreises, der 1925 in einem Vortrag über „Goethe als Erzieher zum vaterländischen Denken“ nationale Dimensionen von dessen Politikverständnis freigelegt hatte. Wolfgang Rothe war es folglich ein leichtes, Goethe primär als den erzkonservativen Verteidiger spätabsolutistischer Fürstenmacht gegen Krippendorffs naives Konstrukt aus Kleinstaatenromantik und ethischer Politik in Stellung zu bringen.

Auch Stadt- und Zwergstaaten seien eben keine Garanten gegen inhumane Herrschaftspraktiken. Ebensowenig sei es Zufall gewesen, daß gerade der „Fürstenknecht“ (Ludwig Börne) Goethe, den kaum etwas mit Konfuzius verbinde, nach 1871 im Handumdrehen für den „chauvinistischen Nationalismus“ des Kaiserreiches zu vereinnahmen gewesen sei („Der politische Goethe“, Göttingen 1998).

Im Lichte der Goethe-Forschung erweist sich „Krippendorffs späterweckter Goethe-Enthusiasmus“ (Rothe) mithin rasch als Privatmythologie eines Altlinken, der zu seinen bildungsbürgerlichen Wurzeln zurückgefunden hat. Goethe taugt also weder als Apostel der Gewaltlosigkeit noch als Kronzeuge gegen den Nationalstaat oder den EU-Zentralismus. Bildungspolitisch hingegen findet Krippendorff im „Gesamtkunstwerk Goethe“ (Egon Friedell) jenes „alternative“ Potential, das er in seinem Furor gegen „große Politik“ vergeblich bei ihm sucht.

Das ausführlichste, den „Universitäten“ gewidmete Kapitel seiner „Lebensfäden“ nutzt der Emeritus, um das aus dem Geist der Weimarer Klassik geborene Bildungsideal Wilhelm von Humboldts als humanen Gegenentwurf zur „atemberaubenden Gleichschaltung“ zu präsentieren, die sich an deutschen Hochschulen seit 1999, dem Beginn des „Bologna-Prozesses“ vollziehe. Mit der Ablösung des „kreativen Lernens zur Horizonterweiterung“ durch „globalisierungskonforme Module“ sei Humboldts durch „Einsamkeit und Freiheit“ bestimmtes Bildungsmodell dem Untergang geweiht worden.

Allerdings entdeckte Krippendorff Krankheitssymptome lange vor „Bologna“. Die spektakuläre Verhaftung des Politologen und „DDR-Spions“ Hanns-Dieter Jacobsen durch die Bundesanwaltschaft, im Herbst 1992, provozierte daher einen Rundumschlag Krippendorffs gegen die damals bereits sichtbare „innere Entleerung“, unter der nicht allein die Politik- und Sozialwissenschaften litten. Nicht Tröpfe wie Jacobsen, heißt es darin, bewirkten den Niedergang von Bildung und Universität. Vielmehr habe der „Verrat der Wissenschaft“ mit der Ansiedelung in der „Peripherie der Mächtigen“ begonnen, mit der Selbsterniedrigung zu „Wasserträgern der politischen Klasse“.

Gerade am Berliner Otto-Suhr-Institut meinte Krippendorff kaum mehr Wissenschaftlern, sondern „flankierenden Ideologen von Regierungsinteressen“ zu begegnen. Der Unterwerfung unter die Politik folgte seit 1999 die Kapitulation vor der Wirtschaft. Einen „Roß und Reiter“ nennenden Kommentar zur Berliner Berufungspolitik der „systematischen ‘Reproduktion der Mittelmäßgkeit’“, die den Zerfall der Universität ermöglichte, deponierte Krippendorff freilich lieber in seiner Schublade. Eine kleine Feigheit, die den resignativen Rückblick auf das definitive Ende der „platonischen Akademie“ ankündigte. Was Krippendorff bleibt: Goethe lesen, Mozart hören und die 71 Olivenbäume seines Toskana-Tusculums pflegen.

Ekkehart Krippendorff: Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2012, broschiert, 476 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Goethe-Relief am Berliner Denkmal für Christian Peter Wilhelm Beuth: Aversion gegen Militär und „Machtpolitik“ angedichtet

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