© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Zehn Millionen Kindern die Geburt verweigert
Vier Jahrzehnte Anwalt für den Lebensschutz: Wolfgang Philipps Streitschrift gegen die Abtreibung
Manfred Spieker

Wolfgang Philipp hat die Entwicklung des Abtreibungsstrafrechts in Deutschland nicht nur vier Jahrzehnte kontinuierlich beobachtet, er hat als Rechtsanwalt auch aktiv versucht, den verhängnisvollen Kurs zu korrigieren. Kurz vor Vollendung seines 80. Geburtstages am 20. Juli 2013 legt er mit diesem Bändchen von 160 Seiten eine „Abrechnung“ vor, kein wissenschaftliches Werk also, das Fußnoten, Quellenangaben und ein Literaturverzeichnis enthielte, sondern einen manchmal verzweifelten, manchmal polemischen, aber immer scharfsichtigen Essay aus 38 kleinen Kapiteln, der jedem Staatsbürger, aber auch jedem Strafrechtler, jedem Verfassungsrechtler und jedem Sozialethiker, kurz jedem um das Gemeinwohl Besorgten zu empfehlen ist.

Es geht um die Entwicklung des Abtreibungsstrafrechts, das in den vergangenen vier Jahrzehnten in vier Reformen 1974, 1976, 1992 und 1995 so deformiert wurde, daß es faktisch zu einem Abtreibungsrecht wurde. Neun Millionen Tote in 35 Jahren, so Philipp, sind das meist verschwiegene Ergebnis dieser Reformen. Mittlerweile sind es nach 40 Jahren über zehn Millionen.

Adressat seiner Abrechnung sind die staatlichen Instanzen der Legislative, der Exekutive und der Judikative, die diese Reformen zu verantworten haben, Reformen, mit denen Deutschland nicht nur jedes Jahr einem Viertel seines Nachwuchses die Geburt verweigert, sondern auch seine rechtsstaatliche Verfassung zerstört. Adressat der Abrechnung sind neben den Parteien, den öffentlich-rechtlichen Medien und den Kirchen aber auch und vor allem die Krankenkassen, die die Abtreibung bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 als Sachleistung finanziert haben und seitdem weiterhin aus Steuermitteln der Sozialministerien finanzieren, ohne je die gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung der „Rechtmäßigkeit“ der Abtreibung vorzunehmen. „Damit sind die gesetzlichen Krankenkassen für Millionen Tötungshandlungen einschließlich der demographischen Folgen für Deutschland ganz entscheidend mitverantwortlich.“

Philipp macht sich das berühmte Diktum des Bonner Verfassungsrechtlers Josef Isensee „Der Staat tötet“ zu eigen. Er zeigt, daß der Staat nicht nur durch die Aufnahme der Abtreibung in den Leistungskatalog der Krankenkassen am Tötungsgeschehen beteiligt ist, sondern auch durch die Verpflichtung der Länder in § 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, „ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen“ sicherzustellen.

Als Anwalt versuchte Philipp 1981, die Krankenkassenfinanzierung der Abtreibung zu stoppen. Er vertrat eine Mandantin vor dem Sozialgericht Dortmund, die mit einer Klage gegen die Barmer Ersatzkasse erreichen wollte, die Verwendung ihrer Beiträge zur Finanzierung von Abtreibungen zu unterlassen. Das Sozialgericht stellte zwar fest, daß die Finanzierung einer Abtreibung eine Mitwirkung an der Tötung des ungeborenen Kindes sei und gegen Grundrechte verstoße, traf in der Sache aber keine Entscheidung, sondern verwies die Klage zur Entscheidung an das Bundesverfassungsgericht.

Das Bundesverfassungsgericht traf aber ebenfalls keine Entscheidung zur Sache, sondern gab die Klage 1984 an das mittlerweile anders besetzte Sozialgericht Dortmund zurück, das sie schlußendlich abwies mit der Begründung, die Klägerin hätte nicht das Recht, die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung zu kontrollieren. Rund zehn Jahre später wurde Philipps Kampf gegen die Kassenfinanzierung der Abtreibung dann doch noch ein zwar nicht praktischer, aber immerhin theoretischer Erfolg zuteil, als das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 feststellte, das Grundgesetz lasse es nicht zu, „für die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs, dessen Rechtmäßigkeit nicht festgestellt wird, einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren“. Dies sei mit der Schutzpflicht für das ungeborene Leben nicht vereinbar. Allerdings stellte das Gericht zugleich fest, die Gewährung von Sozialhilfe sei ebensowenig verfassungsrechtlich zu beanstanden wie die Fortzahlung des Arbeitsentgelts. Damit nahm das Bundesverfassungsgericht mit der einen Hand zurück, was es mit der anderen Hand gegeben hatte – einer der zahlreichen Widersprüche in der deutschen Rechtsprechung zum Thema Lebensrecht, die Philipp mit scharfer Logik analysiert und kritisiert.

Was die Rolle der Kirchen in der Aushöhlung des Lebensrechts ungeborener Kinder betrifft, so unterscheidet Philipp mit Recht zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche. Die evangelische Kirche habe mit nur wenigen Ausnahmen unter ihren Bischöfen und Pfarrern – er nennt ausdrücklich Pastor Joachim Cochlovius – der politischen Entwicklung keinen nachhaltigen Widerstand entgegengesetzt. Der Widerstand der katholischen Kirche sei dagegen am Anfang der Reformen in den siebziger Jahren eindeutig und geschlossen gewesen. Bei der letzten Reform 1995 hätten sich jedoch „Ermüdungserscheinungen“ gezeigt. Bei der Deutschen Bischofskonferenz und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken sei es zu „Fehlleistungen“ gekommen, weil sie das Beratungskonzept der Regierung Kohl mitgetragen hätten.

Daß die Reform 1995, wie Philipp meint, gegen den Widerstand der katholischen Kirche „niemals möglich gewesen“ wäre, dürfte den Einfluß der Kirche auf die Politik aber deutlich überschätzen. Philipp würdigt den Widerstand des 2000 verstorbenen Bischofs von Fulda Johannes Dyba. Er empfiehlt den Bischöfen eine Orientierung an ihren amerikanischen Amtsbrüdern und kommt dann doch zu dem versöhnlichen Fazit, daß die katholische Kirche „ungeachtet begangener Fehler“ der Abtreibungsgesetzgebung und der Abtreibungspraxis in Deutschland sehr kritisch gegenüberstehe.

 

Prof. Dr. Manfred Spieker lehrte christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie an der Universität Osnabrück.

Wolfgang Philipp: Zerstörte Zukunft. Wie Deutschland seinem Nachwuchs die Geburt verweigert. Eine fällige Abrechnung. Gerhard Hess-Verlag, Bad Schussenried 2012, broschiert, 160 Seiten, 16,80 Euro

Foto: Puppen, die keiner mehr mag: Die gesetzlichen Krankenkassen sind für Millionen Tötungshandlungen einschließlich der demographischen Folgen für Deutschland ganz entscheidend mitverantwortlich

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