© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

„Die Kinder zappelten im Todeskampf“
Vergessen ist vieles, was sich nach dem Mauerbau im August 1961 in der DDR ereignete. Etwa die Praxis, lästige Frühgeburten zu töten. Eine mutige Hebamme deckte den Skandal schließlich auf und erkämpfte vor Gericht die Anerkennung der Wahrheit.
Moritz Schwarz

Frau Philipp, in der DDR sollen Frühgeburten gezielt getötet worden sein. Das klingt nach Antikommunismus.

Philipp: Überhaupt nicht, es ist wahr!

Sie haben das selbst gesehen?

Philipp: Ja, und schlimmer noch, als unbedarfte Hebammenschülerin wurde ich zu einem Teil des Systems gemacht. Heute fühle ich mich deshalb schuldig.

Warum?

Philipp: Weil ich nicht stark genug war, mehr dagegen zu unternehmen. Es war eine schreckliche Situation.

Sie waren 1963 an der Frauenklinik Erfurt.

Philipp: Wo ich eine Ausbildung zur Hebamme absolvierte. Von Anfang an wurden wir Hebammenschülerinnen rücksichtslos „runtergemacht“, besonders ich. Vielleicht weil ich aus bürgerlichem Haushalt kam, das galt im Arbeiter- und Bauernstaat als Makel. Mir wurde unterstellt, ich sei unwillig, unfähig und verantwortungslos: Tenor der Oberhebamme vor der Schwesternschaft: „Diese Schülerin ist so gewissenlos, daß es ihr egal ist, das Leben von Mutter und Kind aufs Spiel zu setzen!“ Wurde mir befohlen, stundenlang auf Knien mit einer Rasierklinge die Bodenfugen zu reinigen, war ich froh, denn dann ließ man mich wenigstens in Ruhe. Von wegen, gerechtere und gleichere Gesellschaft neuer Menschen in der DDR, da kann ich nur lachen! Wir waren weniger wert als Dreck. Eine Schülerin nahm sich das Leben, weil sie den Druck nicht ertrug. Das war die Atmosphäre, das muß man wissen, um das Weitere zu verstehen.

Was genau haben Sie nun gesehen?

Philipp: Eines Tages wurde mir eine „Totgeburt“ übergeben, doch das Kind atmete, wimmerte und strampelte!

Also doch keine Totgeburt?

Philipp: Es lebte! Ich wollte einen Nabelverband anlegen. „Was machen Sie? Das Kind lebt nicht!“ schrie die Schwester. Ich war perplex. „Aber es wimmert und strampelt doch!“ „Das sind nur Reflexe!“ Ich konnte es nicht fassen. Mißmutig über meinen Widerstand, drückte sie mir schließlich eine alte Mullbinde in die Hand. „Aber das ist nicht steril, schnürt nicht ab. Ich brauche keimfreie Nabelseide!“ Ich war verzweifelt. Aber dann versuchte ich, mit der unsterilen Binde den Nabel zu unterbinden.

Was bedeutet das?

Philipp: Daß … daß ich für den Tod des Kindes mitverantwortlich wäre, falls der Nabelverband zu Blutungen oder zu einer Sepsis beim Kind führen sollte.

Warum taten Sie es dann?

Philipp: Ich weiß nicht ... der Druck, die Angst, die Drohung exmatrikuliert zu werden. Es war nicht wie heute, wo man mit einem Skandal an die Öffentlichkeit geht und als „mutige Person“ eine neue Stelle bekommt. Dort rauszufliegen hieß, ich wäre gescheitert. Ich hatte bereits mein Medizinstudium abgebrochen, meine Mutter lag krebskrank zu Hause, zwei Brüder studierten ebenfalls ohne Stipendium, ich wagte nicht, erneut alles hinzuwerfen. So bin ich schuldig geworden. Und es hat meine ganze Entwicklung beeinflußt. Denn ich bin dort dazu gebracht worden, etwas zu tun, obwohl ich wußte, es ist nicht richtig. Schließlich sollte ich sogar ein Schild „Totgeburt“ an den Beinchen des Kindes befestigen – an Beinchen, die zappelten.

Makaber …

Philipp: Und wie! Ich tröstete mich, das blöde Pappschild würde dem Kind am wenigsten schaden. Aber was ich hörte, war unglaublich. Ich konnte es nicht fassen. War das wirklich real? Egal, was man über die DDR denken mochte, das hätte ich nie für möglich gehalten. Die Schwester sagte: „Öffnen Sie das Fenster und legen Sie das Kind aufs Fensterbrett.“

Es war Sommer?

Philipp: Nein, Dezember! Es war sehr kalt, es lag Schnee, das Kind war unbekleidet. Mir wurde jetzt erst klar, um was es wirklich ging. Bisher dachte ich, es ginge um nachlässige Versorgung, aber das hier, das hier war – Mord!

Sie haben es getan?

Philipp: Nein! Plötzlich wurde mir bewußt, es war sinnlos zu versuchen, die Situation für mich zu retten. Sie verlangten, was ich auf keinen Fall tun konnte! Das hieß für mich: „Aus und vorbei! Jetzt schmeißen sie dich raus!“ Aber die Verzweiflung darüber wich plötzlich einer Klarheit: „Dann soll es eben so sein. Dann ist das mein Weg!“ Jetzt hatte ich die Freiheit, den Befehl zu verweigern.

Das war möglich?

Philipp: Ich tat es einfach nicht. Statt dessen wickelte ich das Kind in saubere Putzlappen und legte es auf die Heizung.

Überlebte das Kind?

Philipp: Dank dieser Maßnahmen überlebte es zumindest die Nacht. Am nächsten Morgen kam meine Ablösung. Ich schilderte ihr alles und ging erschöpft nach Hause, todmüde sank ich ins Bett.

Allerdings waren Sie tatsächlich nicht zum ersten Mal damit konfrontiert.

Philipp: Nein, aber es war das erste Mal, daß ich selbst betroffen war. Es stimmt, ich hatte zuvor von anderen Schülerinnen erfahren, daß Kinder mit zuwenig Gewicht zum Sterben in einen Behälter gelegt wurden – einfach Deckel drauf. So lagen sie in Blut und Fruchtwasser, zu schwach, um den Kopf daraus zu heben.

Warum tat man das?

Philipp: Man dachte sich, die würden sowieso sterben. Und dennoch war es schrecklich, denn das ging dann über Stunden: Die Kinder bewegten sich in ihrem Todeskampf, die Deckel hoben und senkten sich und die Behälter klapperten leise. Absolut schauerlich! Und es war um so furchtbarer, da den Müttern gesagt worden war, ihre Kinder seien bereits tot geboren, es seien Fehlgeburten. Dabei steckten sie ein paar Zimmer weiter in Behältnissen, bis sie langsam starben. Ich fing an, die Fälle aufzuschreiben.

Warum?

Philipp: Ich weiß es nicht, ich wollte das alles einfach festhalten. Mir wurde klar, wie man Frühgeburten zu Fehlgeburten umdeutete.

Aber wieso wurde das gemacht?

Philipp: Gute Frage, denn sie zeigten alle Zeichen des Lebens und hätten als Lebendgeburt deklariert werden müssen. Aber damit hätten sie die Statistik der DDR mit ihrer ausgewiesenen extrem niedrigen Säuglingssterblichkeit zunichte gemacht. Außerdem hätte jede Lebendgeburt, egal wie schwer das Kind war und wie lange es gelebt hat, für die Rente der Mutter zu Buche geschlagen. Da diese Kinder aber als Fehlgeburten ausgewiesen wurden, konnten die Frauen nach 14 Tagen wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden, anstatt acht Wochen zu Hause zu bleiben.

Geschah das alles denn nachweislich auf Anweisung von oben?

Philipp: Ich hatte als kleine Hebammenschülerin natürlich keinen Zugang zu Dokumenten, die so etwas belegen könnten. Ich kann nur beschreiben, was ich erlebt habe. Aber nach meinen Erfahrungen kann das nicht ohne Anweisung der Klinikleitung stattgefunden haben.

Wie weit reichte die Verantwortung dafür nach Ihrer Ansicht nach oben? Welche Schuld daran trug die SED?

Philipp: Ich weiß nicht, ob und wie weit diese Mißstände in die Politik hineinreichten. Jedenfalls war es möglich, und niemand tat etwas, um es zu unterbinden. Und alle etablierten Kräfte hielten zusammen gegen jemanden wie mich, der dagegen Protest anmeldete. Schließlich sollte ich exmatrikuliert werden. Aber aus Angst davor, daß ich vor Gericht gehen würde, verzichtete man dann doch darauf. Die restlichen eineinhalb Jahre Ausbildung waren ein einziges Martyrium. Schließlich verließ ich für 17 Jahre die Klinik.

Als Sie 1982 zurückkehrten, ging die Tötungspraxis weiter?

Philipp: Ich fand die gängige Praxis vor, daß man bei allen Geburten um 1.000 Gramm einen Wassereimer neben das Bett stellte, schnell abnabelte und ehe das Kind den ersten Schrei tun konnte, dasselbe unter Wasser drückte. Ich lehnte es ab, mich an diesen Praktiken zu beteiligen und schrieb einen Protestbrief an den Klinikleiter. Gerade hatte ich eine fünfjährige politische Scheidung hinter mir und mein Bruder war Jahre davor als „Politischer“ zu vier Jahren Gefängnis abgeurteilt worden. Nach diesem Schreiben wurde mir auf meiner Station das Patientengut entzogen. Ich hatte nun die Frauen, die in diesen Schwangerschaftswochen waren, mit Wehen an den Kreißsaal abzugeben. Dazu hatte ich in all den fünf Jahren, die ich dort noch tätig war, Kreißsaalverbot. Die Frauen kamen mit Kindern in der Gewichtskategorie 1.000 Gramm alle ohne Kinder wieder auf meine Station, obwohl ich sie oft mit vollständig geöffnetem Muttermund und Herztönen des Kindes dorthin verlegt hatte. Ohne Anlaß bekamen sie laut ihrer Aussage eine Narkose. Das hieß, die Praxis war von meiner Station also nur in den Kreißsaal verlagert worden. 1987 verließ ich die Klinik, da ich in den Kreißsaal gezwungen wurde und mich an den Tötungen beteiligen sollte. Meine Laufbahn war zu Ende.

Nach der Wende 1989 kam die Sache doch vor Gericht.

Philipp: Als ich nach der Wende 1991 erstmals Andeutungen über meine Erlebnisse machte, glaubte man mir zunächst nicht. Aber eine Ärztin, die mir doch glaubte, hatte guten Kontakt zum Spiegel und wollte alles unbedingt an die Öffentlichkeit bringen. Der Spiegel recherchierte und erhärtete die Vorwürfe. Daß mir damals jemand glaubte, dafür bin ich noch heute dankbar. Und nach der Veröffentlichung durch den Spiegel stieg die Zahl der um 1.000 Gramm Geborenen plötzlich um das 24fache!

Dennoch erwirkte die Medizinische Akademie beim Kreisgericht ein Urteil gegen Sie.

Philipp: Dem zufolge ich bei Wiederholung meiner Darstellung ein Ordnungsgeld bis zu 500.000 D-Mark oder Ordnungshaft zu erwarten hätte. In der zweiten Instanz konnte ich dann aber dank zweier Zeugen gewinnen. Alle Ärzte und Schwestern sagten ansonsten vor Gericht: „So was haben wir nie gemacht!“ Danach konnte ich zum ersten Mal in der Öffentlichkeit wieder frei sprechen und schwor mir, darauf hinzuwirken, daß im Personenstandsgesetz die Grenze zwischen Lebend- und Totgeburten von 1.000 Gramm auf 500 Gramm verringert werden müßte. So war es auch längst in den meisten anderen Ländern.

Warum war das wichtig?

Philipp: Ich hielt es für erforderlich, weil es in der Gewichtsklasse 500 bis 750 Gramm an der Klinik im schwäbischen Tübingen möglich war, die Mortalität bei 22 Prozent zu halten, während sie im Schnitt von Baden-Württemberg bei neunzig Prozent lag, in der Bundesrepublik sogar bei 95 Prozent. Auf die Gewichtsklasse 1.000 Gramm übertragen lag die Mortalität in Tübingen noch unter zwanzig Prozent, in Baden-Württemberg bei fünfzig Prozent und in der gesamten Bundesrepublik bei 65 Prozent.

Das heißt, es gab eine solche Tötungspraxis also auch in der Bundesrepublik?

Philipp: Die Quintessenz aus den Zahlen ist in der Tat, daß gewisse Praktiken der passiven oder aktiven Euthanasie auch in der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt worden sein dürften. Dem wollte ich entgegensteuern.

Presseberichte bestätigten, daß Sie mit dafür verantwortlich waren, daß dieses Gesetz 1994 geändert wurde.

Philipp: Ich habe meine wiedergewonnene Redefreiheit dazu genutzt, Vorträge zu halten unter anderem vor dem Thüringer Landtag, der Europäischen Ärzteaktion, alle Kirchen anzuschreiben, Petitionen an den Bundestag zu richten. Karfreitag 1994 gab es ein neues Personenstandsgesetz. Ab 500 Gramm zählt jedes Kind als Geburt, respektive ohne Lebenszeichen als Totgeburt. Die Chancen des Überlebens für diese untergewichtigen Kinder haben sich in den letzten zwanzig Jahren aufgrund der rasanten medizinischen Entwicklung erheblich verbessert. Dem mußte durch eine Gesetzesänderung endlich Rechnung getragen werden.

 

Christine Philipp, Mit ihrem Einsatz bewirkte Christine Philipp, die damals noch Hersmann hieß, 1994 gegen den Widerstand des Bundesgesundheitsministeriums die Änderung des deutschen Personenstandsgesetzes und rettete damit Abertausenden Frühgeburten das Leben. Ins Rollen gekommen war die Novellierung dank der Aufdeckung des Babymords in der DDR durch die ehemalige Hebamme. Geboren 1941 in Erfurt, setzte sich Christine Philipp an der Frauenklinik ihrer Vaterstadt und an der Gynäkologischen Klinik Friedrichroda gegen die Praxis, sogenannte Frühchen unversorgt sterben zu lassen oder gar zu ertränken, zunehmend zur Wehr. Dafür wurde sie 1992 vom Rheinischen Merkur auf die Liste der „Menschen des Jahres, die uns Mut machen“ gesetzt und erhielt 1994 den Preis der Lebensschutzorganisation „Stiftung Ja zum Leben“. Zuvor war sie allerdings heftig befehdet worden: Das Neue Deutschland schrieb von einer „Rufmordkampagne“, die Landespolitik ließ sie im Stich, sie erhielt Morddrohungen, die Erfurter Frauenklinik kürzte ihren Lohn und brachte sie vor Gericht – wo Christine Philipp aber letztlich siegte.

Foto: Tatort Kinderklinik: „Da wurde mir klar, worum es wirklich ging – um Mord … Den Müttern war gesagt worden, ihre Kinder seien tot geboren, dabei ließ man sie im Raum nebenan sterben“

 

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