© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Lockerungsübungen
Erfahrung hat Vorrang
Karl Heinzen

Niemand kann leugnen, daß die europäische Wirtschaftskrise für viele Menschen Belastungen mit sich bringt. Politiker müssen stärker als üblich um ihre Wiederwahl bangen. Investoren wachen jeden Morgen schweißgebadet auf und fragen sich, ob ihre Renditen noch sicher sind. Bürger mit und ohne Arbeit haben ständig abzuwägen, auf welche Weise sie ihren Lebensstandard am intelligentesten weiter einschränken können.

Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, daß die Krise auch manch überfälligen Bewußtseinswandel angestoßen hat. So können die Europäer frei von historischen Reminiszenzen klar erkennen, wo sie im globalen Wettbewerb stehen. Vor allem aber haben sie sich von der Illusion befreit, daß ihrer Jugend die Zukunft gehört. Lange sah es so aus, als hätte die Revolutionierung des Berufslebens durch Informationstechnologien die Konsequenz, daß ältere Arbeitnehmer mehr und mehr ins Hintertreffen gerieten. Nun hat sich herausgestellt, daß die Wirtschaft in der Krise der Erfahrung den Vorzug vor der vermeintlichen Innovationsfreude gegeben hat. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) läßt sich seit einigen Jahren europaweit eine Spaltung des Arbeitsmarkts beobachten. Die Beschäftigungsquote der Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren ist deutlich gestiegen, während zugleich die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zugenommen hat.

Eine Erklärung findet dieses Phänomen in der Wirtschaftsstruktur unseres Kontinents. Sie ist geprägt von Branchen, deren Uhr abgelaufen ist. In ihnen wird, solange es noch vertretbar ist, mit dem bewährten Personal weitergemacht, doch hat es keinen Sinn, Nachwuchskräfte an Aufgaben heranzuführen, die sich bald schon nicht mehr stellen.

Eine weitere Erklärung ist die Erosion des Sozialstaates auch auf dem Gebiet der Altersversorgung. Manches Schlupfloch, das Angehörige vergangener Generationen nutzten, um sich als Frührentner vor der Zeit auf die faule Haut zu legen, ist heute verstopft. Das einst zur Rechtfertigung bemühte Argument, Ältere sollten dem Nachwuchs Platz machen, zieht nicht mehr. Es hat sich als fragwürdig erwiesen und läßt auch die Interessen der Jugend außer acht: Was nützt es jungen Arbeitslosen, wenn ihre Eltern ebenfalls den Job verlieren und als Versorger ausfallen?

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