© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Deutsche Wildnis soll wachsen
Polarisierte Diskussionen über die Ausweitung der Nationalparks zwischen Belt und Berchtesgaden
Christoph Keller

Die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen ist unser zentrales Anliegen“, behaupten die Grünen seit ihrer Gründung von sich. Auch die anderen Parteien kommen nicht umhin, ökologische Themen anzunehmen. Doch das Versprechen, „Lebensräume für Tiere und Pflanzen zu schützen und die biologische Vielfalt zu erhalten“, ist keine grüne Erfindung. Die Wurzeln des Umwelt- und Naturschutzes gehen tief in die Gründungsära des Deutschen Reiches von 1871 zurück.

Bismarcks Kaiserreich war, als Avantgarde der Moderne, nicht nur eine technologisch-wissenschaftliche Weltmacht, sondern auch ein Vorreiter ökologischer Politik. Und ausgerechnet mit dem Reichsnaturschutzgesetz (RNG) von 1935 erfuhr der vor 1918 perfektionierte Schutzgedanke eine abermalige Aufwertung. In der DDR wurde das RNG 1954 vom Gesetz zur Pflege und Erhaltung der heimatlichen Natur abgelöst. In der Bonner Republik folgte das Bundesnaturschutzgesetz erst 1977. Vergleichsweise spät wurde begonnen, Nationalparks zu konzipieren. Dabei knüpften die Planer zwar faktisch an eine lange Tradition an, bemühten sich indes verschämt, dies nicht zu betonen.

Unbekümmert um diesen nationalen Hintergrund glauben Naturschützer daher, nur internationale Vorgaben erfüllen zu müssen, wenn sie sich anstrengen, den deutschen Wildnisflächenanteil auszuweiten. Richtmarken sind die Beschlüsse der Zehnten Vertragsstaatenkonferenz der Konvention zur biologischen Vielfalt, die vor drei Jahren im japanischen Nagoya stattfand. Demnach muß sich bis 2020 der Anteil der terrestrischen Schutzgebiete von derzeit global 12,7 Prozent auf 17 Prozent vergrößern. Für die Deutschland verbliebene Fläche zwischen Oder und Saar bedeutet dies eine Erhöhung von etwa 0,6 Prozent auf zwei Prozent seines Territoriums, wo sich die Natur nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln darf und „Wildnis“ entstehen soll.

Die Bestandsaufnahme, die Heiko Schumacher (Stiftung Naturlandschaften Brandenburg) und der Würzburger Geograph Hubert Job zu diesen ehrgeizigen Zielen vorlegen, fällt indes durchwachsen und nicht eben forciert optimistisch aus (Natur und Landschaft, 7/13). Allzu unvereinbar erscheinen nach wie vor die Interessen von Ökologen und der zu Nutzungsverzichten gezwungenen Nationalparkanrainer. Natur bleibe eben in einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ein knappes Gut, über das vorwiegend unter ökonomischen Aspekten verhandelt werde. Kaum verwunderlich sei es daher, wenn für die „Akzeptanzsteigerung“ in den jeweils betroffenen Regionen das wirtschaftliche Argument der „Ankurbelung des Tourismus“ notorisch im Vordergrund stehe.

Niemanden werde verwundern, wenn er die 14 deutschen Nationalparks fast ausschließlich an der Peripherie des Bundesgebiets finde, vom Wattenmeer bis zum Bayerischen Wald, von Berchtesgaden bis zur vorpommerschen Boddenlandschaft. Immer noch kämen zu viele Flächenländer ohne Schutzkategorie aus, so daß das Nationalpark-Netz weiterhin zu viele Lücken aufweise. Vier der deutschen Nationalparks hätten zudem nicht einmal die geforderte Mindestgröße von 10.000 Hektar, obwohl drei von ihnen, die Buchenwälder in Hainich, Jasmund und Kellerwald-Edersee nach der Devise „klein, aber fein“ 2011 immerhin die Auszeichnung als „Cluster-Weltnaturerbe“ der Unesco erhielten.

Auch im größeren Bayerischen Wald werde, trotz der Erweiterung von 1997, bisher nur die Hälfte des Areals „natürlicher Entwicklung“ überlassen. „Emotional aufgeladen“ würden sich die Meinungen nach wie vor an Fragen der Jagd und der Wildregulierung scheiden. Trotzdem dürfe man in diesem 1970 eingerichteten Nationalpark eine „Erfolgsgeschichte“ erkennen. Was aber keineswegs überregional animierend wirke, wie Schumacher und Job beklagen. Stießen doch weiterhin zu viele Nationalparkinitiativen auf Widerstände. Heftig umstrittene Pläne für Parks im Siebengebirge (Rheinland), im Peenetal und in der Grenzheide (beide Vorpommern) geben dafür ebenso Beispiele wie die mit massiver „Gegnerschaft“ konfrontierten Empfehlungen, auf dem Gelände des aktuell noch genutzten Truppenübungsplatzes Sennelager (bei Paderborn) sowie im benachbarten Teutoburger Wald einen Nationalpark einzurichten. Ähnlich unversöhnlich stehen sich die Standpunkte im Nordschwarzwald gegenüber (JF 18/13). Aus eigener Erfahrung berichtet Schumacher über quälend zähe Bemühungen, im südlichen Brandenburg, in der Lieberoser Heide, einen zweiten Nationalpark, neben dem eine „unglückliche Historie“ aufweisenden „Unteren Odertal“, einzurichten. Die notorisch klammen Finanzen des Bundeslandes scheinen die Realisierung jedoch genauso in weite Ferne rücken zu lassen wie die „polarisierten Diskussionen“ zwischen Anwohnern und Umweltschützern.

Das in Nagoya 2010 anvisierte „Zwei-Prozent-Wildnisziel“ könne Deutschland nur erreichen, wenn die Hausaufgaben zügiger erledigt würden. Um dafür die Motivation zu verbessern, erinnern Schumacher und Job überraschend freimütig am Ende ihrer „Analysen und Prognosen“ über die deutschen Nationalparks dann doch an die kaiserzeitlichen Wurzeln des Ökologismus.

Die heute omnipräsenten ökonomischen Kategorien, die den Naturschutz einengen und unter Rechtfertigungsdruck setzen, hätten nämlich zu Bismarcks Zeit keine Rolle gespielt. Sei doch die Nationalparkidee zu Zeiten des „Eisernen Kanzlers“ nicht aus primär wirtschaftlichen Gründen „erfunden“ worden, sondern um „landschaftsprägende nationale Identifikationsobjekte“ zu etablieren. Ob diese Identifikation im Zeichen der Euro-Krise, in der Prediger des „alternativlosen“ nationalen Souveränitätsverzichts in Deutschland den Ton angeben, sich bis 2020 in der Umweltpolitik gegen den Primat des Ökonomischen durchsetzt, ist fraglich.

Informationen zu den deutschen Nationalparks, Biosphärenreservaten und Naturparks: www.nationale-naturlandschaften.de

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