© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

In der Ferne entfesselt
Millionen Tote im politischen Windschatten: Der japanisch-chinesische Konflikt zwischen 1937 und 1945 wird dem Zweiten Weltkrieg zugerechnet
Jan von Flocken

Die Frage, wann der Zweite Weltkrieg begann, dürfte auch für historisch mäßig interessierte Laien einfach zu beantworten sein. Schwieriger ist schon die Frage nach der Opferzahl dieses Konflikts. Wenn die Jahrestage der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki das Gedenken auf das Kriegende lenken (offiziell am 2. September 1945), wird turnusgemäß auch eine Opferzahl genannt.

Nachdem man sich jahrzehntelang auf die ebenso mystische wie leicht zu merkende Summe von 50 Millionen geeinigt hatte, besteht nunmehr auch hierzulande die Tendenz, jene Zahl möglichst hoch anzusetzen – mit dem unverkennbaren Ziel, dies vor allem dem Deutschen Reich und dessen Wehrmacht anzulasten, da sie den Krieg „entfesselt“ hätten, und damit Ansprüche auf materielle Entschädigungen zu begründen. In die Gesamtsumme der Toten fließen dann wie selbstverständlich auch alle Opfer des fernöstlichen Krieges zwischen Japan und China ein. Das bringt jedoch auch die Zeitrechnung gehörig durcheinander, denn jener Konflikt begann nicht im September 1939, sondern schon am 8. Juli 1937.

Japan hatte während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine sehr dynamische Modernisierung von oben durchgesetzt. Gleichzeitig betrieb das Kaiserreich eine immer aggressivere Außenpolitik. Schon 1894/95 kam es zum ersten Krieg gegen China, das die Insel Formosa (Taiwan) abtreten mußte. Nach den spektakulären Siegen von Nippons Heer und Flotte gegen Rußland 1904/05 sowie der Okkupation Koreas 1910 zählte das Land unbestreitbar zu den Großmächten der Welt.

Neben der koreanischen Halbinsel standen auch große Teile von Chinas Nordosten, die Mandschurei oder Mandschukuo, unter japanischem Einfluß. 1932 installierte Tokio hier einen Vasallenstaat; an seine Spitze setzte man den 20 Jahre zuvor vertriebenen Kaiser Puyi von China. Vielen sind diese Vorgänge aus Bernardo Bertoluccis Monumentalfilm „Der letzter Kaiser“ geläufig.

Als es am 8. Juli 1937 an einem strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt bei Peking nahe der Marco-Polo-Brücke zu einer Schießerei zwischen japanischen Besatzungstruppen der Kwantung-Armee und Soldaten der Pekinger Garnison kam, weitete dieser Zwischenfall sich bald zum militärischen Großkonflikt aus. Bis heute ist ungeklärt, wer damals den ersten Schuß abgab und ob es sich um einen unglücklichen Zufall oder eine gezielte Provokation handelte.

Schon am 11. Juli trat in Tokio das weitgehend von Militärs dominierte Kabinett zu einer Sondersitzung zusammen. Es beschloß, verstärkt Truppen nach Nordchina zu entsenden und finanzielle Mittel „für weitere Maßnahmen“ bereitzustellen. Es begann daraufhin eine „Strafexpedition“, quasi ein Krieg ohne Kriegserklärung. Bis Ende Juli eroberten die Japaner die Stadt Tientsin und besetzten das nordchinesische Territorium östlich von Peking bis zur Küste. Am 12. August vor 75 Jahren begannen die Angriffe auf die wichtigste Hafenstadt des Landes Shanghai und damit das volle Grauen neuzeitlichen Vernichtungskrieges gegen die Zivilbevölkerung. Artillerie und Bombenflugzeuge richteten ein Massaker an. Als japanische Truppen nach teilweise erbitterten Häuserkämpfen Ende November 1937 Shanghai eroberten, waren große Teile der Einwohnerschaft tot oder geflohen.

Nach der Besetzung von Nanking, damals Hauptstadt Chinas, im Dezember 1937 erreichte das Gemetzel ungeahnte Dimensionen. Bis zu 300.000 Menschen fielen binnen sechs Wochen dem Toben der Eroberer zum Opfer. 20.000 Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt. Dabei spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Stellvertretend hierfür sei der Bericht des japanischen Soldaten Kozo Tadokoro: „Zu dieser Zeit war die Kompanie, zu der ich gehörte, in Xiaguan (Stadtteil von Nanking – d. A.) stationiert. Wir benutzten Stacheldraht, um die gefangenen Chinesen zu Zehnerbündeln zusammenzuschnüren und banden sie an Gestelle. Dann schütteten wir Benzin auf sie und verbrannten sie lebendig (…) Ich fühlte mich, als würden wir Schweine rösten.“ General Kesago Nakajima, Kommandeur der 16. Infanterie-Division, notierte am 13. Dezember 1937 in sein Tagebuch: „Wir sehen Gefangene überall, so viele, daß es keinen Weg gibt, mit ihnen umzugehen. Die allgemeine Richtlinie lautet daher: ‘Keine Gefangenen machen’.“

Für China brachen in den folgenden sieben Jahren furchtbare Zeiten heran. Das Land befand sich seit 1912 in einem permanenten Bürgerkrieg, eine staatliche Zentralgewalt existierte nicht mehr und entsprechend gering war der Widerstand, welchen man den Invasoren entgegensetzen konnte. Die chinesischen Nationalisten unter Führung von Chiang Kai-shek und die Kommunisten unter Mao Zedong fanden sich fast nie zum gemeinsamen Kampf bereit. So war die Zivilbevölkerung nahezu schutzlos den Japanern ausgeliefert. Massaker wie das von Panjiayu am 25. Januar 1941, als nahe der Großstadt Tangshan 1.230 Dorfbewohner getötet wurden, darunter etwa 660 Frauen und Kinder, gehörten zur Tagesordnung.

Chinesische Zivilisten wurden für Menschenversuche mit chemischen und biologischen Waffen mißbraucht, darunter Sarin, Zyanidgas und Arsen. Bei diesen Experimenten wurden allein von der berüchtigten „Einheit 731“ etwa 3.500 Menschen ermordet. Zu allem Übel kamen auch noch ausgedehnte Hungersnöte, die Millionen Menschenleben forderten, weil die Besatzer rücksichtslos Lebensmittel beschlagnahmten und der unterernährten Bevölkerung jegliche Hilfe verweigerten.

Die Opferzahl dieses siebenjährigen Krieges zu beziffern, ist nahezu unmöglich. Was China betrifft, so schwankt die Zahl der getöteten Soldaten zwischen drei und 4,5 Millionen, die der Zivilisten zwischen sieben und 16 Millionen. Mit derart unklaren Angaben ist es relativ leicht, die Zahl der Opfer des Zweiten Weltkrieges bis auf 64 Millionen in die Höhe zu treiben.

Besonders aufschlußreich für solche Zahlenakrobatik sind Beispiele aus der Sowjetunion. In seinem Werk „Bilanz der Kriege“ kam der sowjetische Historiker Boris Z. Urlanis noch 1960 zu dem Resultat, die Verluste seines Landes betrügen 7,2 Millionen Menschen. Er fügte hinzu: „Oft wird gesagt, der Zweite Weltkrieg habe 50 oder sogar 60 Millionen Opfer gekostet, doch sind diese Zahlen stark übertrieben.“ Während der Breschnew-Ära in den siebziger Jahren bekam die Zahl von 20 Millionen Opfern auf seiten der Sowjets gleichsam kanonischen Charakter.

Heute kapriziert sich Rußland darauf, allein die sowjetischen Verluste wären zwischen 37 und 40 Millionen Menschen anzusetzen. Welche Rolle wohl dabei jene etwa zwei Millionen Angehörigen ethnischer Minderheiten spielen, wie etwa Wolgadeutsche oder Kalmücken, die während der Deportationen in Stalins GuLag 1941 bis 1945 starben?

Man sollte in diesem Zusammenhang den Autoren des „Oxford Companion to World War II“ von 2005 zustimmen, wenn sie feststellen, „daß Statistiken über Kriegsverluste notorisch unzuverlässig sind“.

Foto: Japanische Soldaten in eroberter chinesischer Artilleriestellung (undatiert): Zwischen zehn und zwanzig Milllionen Opfer in der Schreckensbilanz des Zweiten Weltkriegs

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