© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Bankenrettung schafft keine Gerechtigkeitstheorie
Forderung nach einer Politik des Gemeinwohles: Der Sozialphilosoph Michael J. Sandel stellt die Frage nach dem richtigen Handeln
Felix Dirsch

Der kürzlich gefeierte 150. Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie hat den ohnehin unstrittigen Rang der (sozialen) Gerechtigkeit erneut hervorgehoben. Der Diskurs darüber bildet den roten Faden politiktheoretischen Denkens, der sich von Platon bis John Rawls erkennen läßt. Die Gerechtigkeit nimmt seit alters her eine moralische Position ein, mit der kaum ein anderer Begriff konkurrieren kann. Längst hat sie unter globalen Vorzeichen die Bedeutung eines „Leitzieles der Menschheit“ (Otfried Höffe) erhalten.

Grund genug für Michael Sandel, diese so grundlegende Problematik nochmals aufzurollen. Der in Harvard tätige Gelehrte gilt als einer der populärsten Professoren der USA, so daß der weltweite Erfolg seiner jüngsten Bücher – des hier besprochenen wie auch der Abhandlung „Was man für Geld nicht kaufen kann“ – kaum verwundert.

Der Hintergrund dieser Studien ist nicht schwer zu erraten: in erster Linie die Finanzkrise mit ihren vor ihrem Ausbruch kaum für möglich gehaltenen Verwerfungen, aber auch die Anwendung traditioneller ethischer Kriterien in neuen Kontexten. So wird schon im einleitenden Kapitel das Dilemma eines US-Sondereinsatzkommandos geschildert, dessen Leiter auf die Tötung unschuldiger afghanischer Ziegenhirten verzichtete, dadurch aber die Konsequenz verantworten muß: Die Betreffenden waren in der Lage, den Standort der Soldaten zu verraten. Einige von diesen wurden bald darauf durch herbeigeeilte Taliban-Kämpfer getötet, was dem Befehlshaber, der zu den Überlebenden zählt, lebenslange Gewissensbisse wegen der Fehlentscheidung – die erst nachträglich als solche erkannt wurde – bescheren dürfte. So kompliziert können ethische Entscheidungen sein!

Sandel, der vor rund dreißig Jahren mit seiner Rawls-Kritik Bekanntheit erlangte, nähert sich der Thematik naturgemäß als Kenner der angloamerikanischen moralphilosophischen Tradition. Nicht zuletzt deswegen erörtert er ausführlich die Strömung von Utilitarismus und Libertarianismus, die auf dem Kontinent nur wenige Anhänger gefunden haben. Aber auch die Vertreter anderer Denkrichtungen wie Kant und dessen Erbe Rawls werden breit behandelt. Beide Denker geben dem Rechten den Vorrang vor dem Guten, dem Tugendhaften. Ungleich aktueller ist der Abschnitt über „Positive Diskriminierung“. Darf man die Nachkommen früher benachteiligter Minderheiten, etwa Afroamerikaner, quotenmäßig bevorzugen? Ja, sagen die Verfechter der „Vielheit“, nein, diejenigen der Leistungsgerechtigkeit. Kommt der Leistung nicht der höchste Zweck einer akademischen Einrichtung zu, kann man in der Tat, wie es der Verfasser tut, die Frage stellen, ob es nicht am sinnvollsten sei, die Studienplätze zu versteigern.

Daß mit Aristoteles der vielleicht bedeutendste Gerechtigkeitsphilosoph der Vormoderne ausführlich dargestellt wird, erstaunt schon deshalb nicht, weil Sandel bis heute häufig mit dem Etikett des Kommunitaristen erfaßt wird. Solche Denker des Gemeinschaftlichen betrachten – neben Hegel – den antiken Philosophen in besonderer Weise als Gewährsmann. Freilich ist umstritten, ob es in der komplexen modernen Welt noch möglich ist, für die relevanten Bereiche menschlichen Daseins ein Telos anzunehmen, des weiteren, ob ein die Tugend affirmierendes Denken nicht zu sehr die Freiheit des einzelnen einschränkt. Sandel hat seine früheren Ansichten nicht aufgegeben, was vor allem die Abschlußpassage über die „Politik des Gemeinwohles“ belegt.

Sandel berücksichtigt neuere Facetten des Gerechtigkeitsbegriffes ausführlicher, beispielsweise die Legitimität der gleichgeschlechtlichen Ehe und den Disput über Stammzellenforschung. Dennoch gewinnt man schnell den Eindruck, daß zentrale Felder der Gegenwartskontroversen nicht oder zuwenig beachtet werden. Der weite Bereich der Umweltgerechtigkeit ist ebenso ein Desiderat wie der der Generationengerechtigkeit. Es fehlt auch der maßgebliche Hinweis, daß der Durchsetzung des (Natur-)Rechts oberste Priorität für die Gerechtigkeit zukommt, egal wie man diese faßt. Soziale Gerechtigkeit ist also mehr als bloße Verteilung, die für die Linke zumeist im Vordergrund steht, die häufig nicht fragt, wie das zu Verteilende geschaffen wird.

Nach der Lektüre der Schrift ist man zwar angenehm darüber überrascht, wie sehr es dem Verfasser gelingt, die Argumente der Klassiker mit den Problemen der Gegenwart in Zusammenhang zu bringen. Allerdings fällt auch auf, daß kein neuer „Rawls“ – rund vier Jahrzehnte nach dem Erscheinen der „Theorie der Gerechtigkeit“ – auf den Markt gekommen ist. Sandels Beitrag, von einigen Beobachtern als großer Wurf gefeiert, erschöpft sich in mancherlei Hinsicht in Fußnoten zu dem bedeutenderen Kollegen. Auch die durch die Finanzkrise bewirkte Zäsur fungierte nicht als Katalysator für eine umfassende Theorie. Die Analytiker der Bankenrettung bringen – auch nach etlichen Jahren – keine neue Bankenethik hervor.

Michael J.Sandel: Gerechtig-keit. Wie wir das Richtige tun. Ullstein-Verlag, Berlin 2013, gebunden, 416 Seiten, 21,99 Euro

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