© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Unter der Geißel der kolonialen Erbübel
Stefan Rinke und Frederik Schulze präsentieren die Geschichte des heutigen südamerikanischen „Tigerstaates“ Brasilien im Schnelldurchlauf
Heinz Fröhlich

Im Jahr 1941 veröffentlichte Stefan Zweig, der aus Deutschland nach Brasilien geflüchtet war, eine Schrift über: „Brasilien. Ein Land der Zukunft“. Heute avanciert der Teilkontinent mit seinen rund 200 Millionen Einwohnern zur globalen Wirtschaftsmacht.

Jedoch offenbart die brasilianische Medaille eine finstere Kehrseite. Massenarmut und Korruption prägen das ethnisch und sozial gespaltene Land. Am Zuckerhut wüten politische Krankheiten, deren Ursachen in der Kolonialzeit liegen. Portugal erhielt 1494 nach dem Schiedsspruch des Papstes Alexander VI. Teile des späteren Brasilien vertraglich zugesprochen und besiedelte jene Gebiete seit dem frühen 16. Jahrhundert. Wohl bis zu fünf Millionen Indianer fielen einem Völkermord zum Opfer; afrikanische Sklaven ersetzten die Indigenen. Um 1800 trug fast jeder zweite Brasilianer das Sklavenjoch. Erst 1888 schaffte Brasilien als letztes amerikanisches Land die Sklaverei ab.

Vernichtung der Indianer und Sklavenhandel kennzeichneten auch die USA. Während aber Nordamerika ein effektives Gewerbe organisierte, mündete portugiesisches Denken in unpro-duktive Ausbeutung. Brasilholz, das der Kolonie den Namen gab, Gold und Diamanten, Eisen und Kupfer bauten Sklaven ab. Statt zu investieren, verpraßten die Zucker- und Kaffeebarone fast alle Gewinne. Der brasilianischen „Milchkuh“ verbot Portugal noch 1785, eigene Webstühle zu gebrauchen, so daß die Kolonie fast alle Industriegüter importieren mußte. Nur allmählich lockerten die Portugiesen das Handelsmonopol. Französische Truppen besetzten 1808 Lissabon; der portugiesische Hof regierte fortan in Rio de Janeiro, wodurch die Kolonie einen höheren Status erhielt. Da Portugal versuchte, die ursprüngliche Abhängigkeit wiederherzustellen, erkämpften die Brasilianer 1822 ihre Unabhängigkeit. Die Niederlage der Kolonialherren stärkte das Selbstwertgefühl.

Zwei Historiker der Freien Universität Berlin haben jetzt ein faktengesättigtes Buch über die Geschichte dieses Landes vorgelegt. In Brasilien, betonen Stefan Rinke und Frederik Schulze, entstanden politische „Identitäten“ wesentlich aufgrund „ethnischer und kultureller Kriterien“. Den Brasilianern fiel es schwer, ein tragfähiges National- und Staatsbewußtsein zu formen. Bis 1889 existierte das „Kaiserreich“ Brasilien, die einzige amerikanische Monarchie. Blutige Konflikte bestimmten diese Ära, der eine Republik folgte, die wenige Oligarchen lenkten.

Unter der Entwicklungsdiktatur des Getulio Vargas (1930–1945) erlebte Brasilien, auch dank italienischer und deutscher Neuankömmlinge, einen massiven Industrialisierungsschub, der die Menge der Importe reduzierte und hohe Auslandsschulden langfristig minderte. Etliche Brasilianer planten, die Bevölkerung „aufzuweißen“, andere erstrebten eine „Rassendemokratie“. Obwohl in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten die Wirtschaft beachtlich wuchs, blieb das soziale Elend konstant. Die Armee putschte 1964 gegen den linken Präsidenten Goulart und zog sich erst 1985 wieder zurück.

Seither stieg Brasilien ökonomisch empor, heilte aber nur bedingt seine vielhundertjährigen Erbübel. Bildungschancen werden stark privilegiert; weltweit hat Brasilien die größte soziale Ungleichheit. Fast zwei Drittel des Nationaleinkommens besitzen die oberen zwanzig Prozent, das unterste Fünftel der Brasilianer hält zwei Prozent. Rinke und Schulze verfaßten ein ebenso informatives wie problemorientiertes Buch.

Stefan Rinke, Frederik Schulze: Kleine Geschichte Brasiliens. Verlag C.H. Beck, München 2013, 232 Seiten, 12,95 Euro

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