© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Tränen für die Angeklagten
Gewalt: Im Prozeß um den auf dem Berliner Alexanderplatz zu Tode geprügelten Jonny K. bleiben viele Fragen unbeantwortet
Henning Hoffgaard

Schluchzen und Wimmern. Nach dem Plädoyer des Staatsanwaltes fließen auf den Zuhörerbänken des Saals 700 im Kriminalgericht Berlin-Moabit die Tränen. Allerdings sind es nicht die Angehörigen des im Oktober 2012 auf dem Berliner Alexanderplatz totgeprügelten Jonny K., die so auf sich aufmerksam machen. Es ist eine Freundin von Onur U. Nur Augenblicke vorher hatte Oberstaatsanwalt Michael von Hagen eine fünfeinhalbjährige Jugendstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge für den bereits einschlägig vorbestraften 20 Jahre alten Angeklagten gefordert. Der zeigt sich ungerührt. Mal schaut er seinen Anwalt an, dann streift sein Blick wieder ziellos durch den Raum. Auch als von Hagen von einem „Gewaltexzeß“ spricht, bleibt der Ex-Boxer gelassen.

Die Staatsanwaltschaft hat U. als Haupttäter ausgemacht. Für die fünf Mitangeklagten fordert sie wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung zweieinhalb bis drei Jahre Haft. Der Tathergang läßt sich bis heute nicht ganz genau klären. Soviel steht laut Anklage aber fest: Am 14. Oktober vergangenen Jahres um kurz vor vier Uhr in der Nacht verläßt Jonny K. zusammen mit Freunden eine Bar in der Nähe des Roten Rathauses. Zusammen läuft die Gruppe über den Alexanderplatz und trifft dort auf Onur U., Osman A., Melih Y., Hüseyin I., Memet E. und Bilal K.

Während Jonny und Gerhard C. einem betrunkenen Freund auf einen Stuhl helfen wollen, eskaliert die Situation. Onur U. reißt den Stuhl zurück. Gerhard C. fliegt zu Boden. Als Jonny dazwischengeht, wird er brutal zusammengeschlagen. Wenige Stunden nach dem Angriff erliegt er im Krankenhaus einer Hirnblutung.

Wer für den entscheidenden Schlag oder Tritt verantwortlich ist, läßt sich auch nach Angaben der Ermittler nicht genau sagen. Einzig, daß Onur U. angefangen hat, ist in den Augen der Staatsanwaltschaft erwiesen. Wer dann wie oft und wie stark mitgeprügelt hat, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Die anderen Mitangeklagten schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Tina K., Jonnys Schwester, sitzt während der Plädoyers nahezu ungerührt im Raum. Eigentlich wollte sie sich an diesem Tag zu Wort melden. Nachdem ihr Anwalt mit seinen Ausführungen am Ende ist, reicht er ihr das Mikrofon. Die 28 Jahre alte Deutsch-Thailänderin preßt beide Hände ins Gesicht und kämpft mit den Tränen. Nein, sie kann nichts sagen. Die Vertreter der Nebenkläger sind um so deutlicher. Sie erkennen keinen Aufklärungswillen bei den Angeklagten. Daß sich die Familien von vier der Angeklagten, bevor ihre Söhne sich der Polizei stellten, zusammensetzten, läßt die Juristen aufhorchen. „Es hat mich gewundert, daß einige Zeugen beim Eintritt in den Saal plötzlich an Amnesie litten“, sagt ein Anwalt der Nebenklage. Auch die Behauptung von Onur U., er habe den Stuhl, den er Jonnys Freund weggezogen hatte, nur gedreht, um zu demonstrieren, wie deutsche Mädchen für türkische Männer tanzen, hält er für unglaubwürdig. Zudem zeige es, über was für ein Frauenbild der Angeklagte verfüge.

Besonders die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, Bilal K. habe soviel Alkohol getrunken, daß er nach Paragraph 21 Strafgesetzbuch vermindert schuldfähig sei, stößt den Opfervertretern übel auf. Experten hatten dem 24jährigen einen Alkoholwert von bis zu 3,1 Promille attestiert. Allerdings ganz ohne Bluttest und nur auf dessen eigene Aussagen gestützt. Einen fast schon „toxischen Zustand“ nennt der Vertreter der Nebenklage das und wundert sich, wie Bilal K. danach noch sein Auto unfallfrei nach Hause gebracht haben will.

Mit den Strafmaßforderungen geht ein Prozeß zu Ende, wie ihn Berlin lange nicht gesehen hat. Das Verfahren mußte im ersten Anlauf nach wenigen Verhandlungstagen abgebrochen werden. Ein Schöffe hatte mit einer Berliner Regionalzeitung über den Prozeß gesprochen und sich über die Erinnerungslücken der Zeugen beschwert.

Anfang August sorgte dann die Jugendgerichtshilfe für Empörung. Sie sprach sich bei drei der Angeklagten für die Heranziehung des Jugendstrafrechtes aus. Onur U., Osman A. und Memet E. würden „Reifeverzögerungen“ aufweisen. Gefängnis dürfe den drei mutmaßlichen Tätern deswegen nicht auferlegt werden. Sie forderte statt dessen Bewährungsstrafen, ein soziales Einzeltraining und Freizeitarbeit als Strafe. Zumindest in einem Punkt folgte die Staatsanwaltschaft nun der Jugendgerichtshilfe. Onur U., Osman A. und Memet E. sollen tatsächlich nach Jugendstrafrecht verurteilt werden. Ansonsten habe die Empfehlung bei ihm nur „Kopfschütteln“ ausgelöst, sagt Oberstaatsanwalt Michael von Hagen. Er forderte das Gericht zusammen mit der Nebenklage ausdrücklich auf, das Votum der Jugendhilfe zu ignorieren.

Der Anwalt von Onur U. hat eine andere Theorie. Sein Mandant sei mit Jonny gar nicht in Berührung gekommen. „Warum sollten die Mitangeklagten nicht den einfachen Weg gehen und Onur U. beschuldigen?“ fragte er und ergänzte „Weil es so nicht war.“ Jonny K., totgeschlagen von Geisterhand.

Foto: Tina K., die Schwester des Opfers Jonny; ein Angeklagter versteckt sich hinter einer Zeitung: Totgeschlagen von Geisterhand?

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