© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

„Der Meister der Zukunft ist ein Türke“
Berufsausbildung: Das deutsche Handwerk sorgt sich um den Nachwuchs / Probleme der Bahn hausgemacht
Christian Schreiber

Während in den Euro-Krisenstaaten die einst kreditbefeuerte Wirtschaft darniederliegt und die Jugendarbeitslosigkeit bedrohliche Ausmaße annimmt, scheinen Deutschland entgegengesetzte Probleme zu plagen. Viele Firmen, die ausbilden, klagen über Nachwuchssorgen. Wenige Wochen vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres am 1. September meldete die Bundesagentur für Arbeit (BA) noch mehr als 146.000 unbesetzte Lehrstellen. Selbst die angelaufenen Kampagnen zur Nachwuchsanwerbung aus anderen EU-Staaten, wo Hunderttausende keinen Ausbildungsplatz finden, können die Lücke offenbar nicht füllen.

Doch gleichzeitig sind bei der BA etwa 200.000 Jugendliche gemeldet, die angeblich auf der Suche nach einer Lehrstelle sind. Schaut man sich die Zahlen jedoch genauer an, wird schnell klar, daß es sich eben nicht um ein einfaches Vermittlungsproblem handelt. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) wollte es in seinem „Deutschland-Check“ genauer wissen und hat daher 803 Unternehmen aus Deutschland zu Nachwuchsfindung und Einstellungspraxis befragt. Für viele Betriebe wird es danach zunehmend schwieriger, geeignete Bewerber zu finden.

Knapp ein Drittel der Firmen beschäftigt derzeit Auszubildende. Generell gilt: Je größer das Unternehmen, desto größer die Bereitschaft, auch auszubilden. 62 Prozent der nicht ausbildenden Unternehmen gaben hingegen an, daß sie auf Lehrlinge verzichten, weil sie ihre Mitarbeiter besser auf anderem Weg rekrutieren können. Zweithäufigster Ablehnungsgrund ist die Ausbildungsfähigkeit der Schulabsolventen: 44,1 Prozent gaben an, daß die Qualifikationen nicht ausreichend seien. Dies gilt besonders für kleinere Betriebe.

Die durchschnittliche Qualifikation der Bewerber wurde auf einer Skala von 1 bis 6 lediglich mit 3,3 bewertet, was einem schwachen befriedigend entspricht. „Es bestehen teilweise keine mathematischen Grundkenntnisse, die Rechtschreibung ist fatal, Einsatzwille und Motivation tendieren gegen null. Von fünf Auszubildenden werfen zwei bis drei bereits vor der Zwischenprüfung das Handtuch“, zitierte das IW einen Unternehmer. Überraschend wirkt angesichts solcher Realitäten ein Vorstoß des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH). Dessen Präsident Otto Kentzler, selbst Klempner und Maschinenbauingenieur, forderte die Betriebe eindringlich auf, mit ihrem Ausbildungsangebot gezielt junge Menschen mit ausländischen Wurzeln anzusprechen – nach dem Motto: „Der Meister der Zukunft ist ein Türke.“

Zweifel an dieser Einschätzung dürften allerdings erlaubt sein. Richtig ist, daß das Handwerk eine der tragenden Säulen der Wirtschaft in der Türkei ist. Speziell das türkische Kunsthandwerk genießt seit Jahrhunderten hohe Wertschätzung. Auch in vielen deutschen Industriebetrieben arbeiten seit Jahrzehnten hochqualifizierte ausländische Facharbeiter. Die gewandelte Realität ignoriert der 71jährige Kentzler offenbar: 14,1 Prozent der Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland haben keinen Schulabschluß, 40,6 Prozent keinen Berufsabschluß. Bei den „Biodeutschen“ sind es nur 1,8 beziehungsweise 15,9 Prozent. In Hamburg, wo mehr als ein Viertel der Einwohner aus Ausländerfamilien stammt und ein Großteil davon keinen Berufsabschluß hat, wurde daher von der dortigen Handwerkskammer Hamburg das Projekt „Nachqualifizierung im Handwerk“ gestartet, das den Schwerpunkt auf berufsbezogenen Sprachunterricht legt.

Doch all das hilft nicht, wenn die Anforderungen der Arbeitgeber und die Vorstellungen der jungen Generationen nicht zusammenzupassen. Der klassische Hauptschüler finde heute unmittelbar nach der Schule äußerst selten eine Lehrstelle, selbst mit Bestnoten, klagte der Sozialforscher Martin Baethge kürzlich gegenüber dem Spiegel. Doch die ironische Frage von ZDH-Chef Kentzler, ob man wirklich dauerhaft einen „Koch oder Klempner mit Abitur“ brauche, geht an den tieferen Ursachen vorbei.

Haupt- und zunehmend auch Realschüler werden vor allem deswegen abgelehnt, weil die Lehrmeister mit ihnen immer schlechtere Erfahrungen machen. Und da immer mehr mit Abitur die Schule verlassen – in manchen Bundesländern über die Hälfte – ist es logisch, daß Lehrstellen auch mit ihnen besetzt werden. Eine Ausbildung zum Mechatroniker verlangt eben mehr Vorkenntnisse als eine Friseurlehre. Da die Schulbildung mehr nicht ausreicht, müssen die Unternehmen inzwischen selbst beim Thema Bildung mit anpacken. Die Bereitschaft, Jugendlichen ein Schulpraktikum anzubieten, sei daher stark angestiegen, so das IW.

Auch die wegen des Chaos am Mainzer Hauptbahnhof wieder ins Gerede gekommene Deutsche Bahn AG will in den kommenden Monaten verstärkt an Schulen werben. Im Zuge der vorerst gestoppten Privatisierungspläne war die Nachwuchsrekrutierung reduziert worden, denn an der Börse sind „schlanke“ Firmen gefragt. Während die DB-Spitze glauben machen will, es handele sich nur um vorübergehende Schwierigkeiten wegen Krankmeldungen und Urlaub, sieht die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ein generelles Problem. „Die Bahn ist auf dem besten Weg, sich kaputtzusparen“, warnte EVG-Chef Alexander Kirchner angesichts der Personalknappheit. Doch die Bahn gilt seit ihrer Umwandlung in eine AG nicht mehr als attraktiver Arbeitgeber. Und mancher, der bei der DB ausgebildet wurde, fragt sich: Warum hier als Lokführer weiterarbeiten, wenn bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) das doppelte Gehalt winkt?

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