© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Der Dichter spricht
Ein famoses Geschenk: Ernst Jünger in originalen Tonaufnahmen aus vier Jahrzehnten
Rainer Hackel

Es sei mir erlaubt, mit einer persönlichen Erinnerung zu beginnen. Als Ernst Jünger 1982 mit 87 Jahren den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main erhielt, wurde ich auf den damals als „Wegbereiter des Faschismus“ angegriffenen Autor aufmerksam und begann, ihn zu lesen. Zwei Jahre später, ich stand kurz vor dem Abitur, besuchte ich Jünger unan­gemeldet in Wilflingen und stellte mich ihm als einen seiner Leser vor. Jünger, nicht gera­de erfreut über den „Leser vom Dienst“, meinte, er habe ja nun viele Leser, wenn da jeder kommen wolle …

Trotzdem ließ er mich herein, und aus den zugestandenen fünf Minuten wurde eine halbe Stunde, in der wir uns in seiner Bibliothek über die Gestalt des Arbeiters, den Weltstaat und die Perfektion der Technik angeregt unterhielten. Auch berichtete Jün­ger von der Beerdigung seines Freundes Otto von der Linde, Weltkriegsteilnehmer und wie Jünger Träger des Pour le merite.

Es war seltsam: Obwohl ich Ernst Jünger noch nie begegnet war, hatte ich das Gefühl, ihn schon lange zu kennen, so unbe­schwert und heiter war das Gespräch verlaufen. Und natürlich war der Schüler beeindruckt von der Geistesgegenwart und Heiterkeit des 89jährigen, die mich an die „Désinvolture“, eine Art furchtlose Souveränität, erinnerte, der Jünger im „Abenteuerlichen Herzen“ einen Abschnitt gewidmet hat.

Freilich, den unter dem Titel „Mein Gegner ist die Sprache“ (Brigade Commerz) veröffent­lichten Originaltonaufnahmen von Ernst Jünger aus den Jahren 1954 bis 1995, unter denen sich auch drei Interviews finden, fehlt die Spontanität und Unbefangenheit einer persönlichen Begegnung, wie ich sie erleben durfte; abgesehen vielleicht von dem kurzen Gespräch des Hundertjährigen mit seinem Freund Albert Hofmann, dem Schweizer Chemiker, der das LSD aus Mutterkorn entwickelte und es gemeinsam mit Jünger testete. Bei öffentlichen Auftritten wie etwa der Verleihung des Goethepreises hatte Jünger oft das Gefühl, neben sich zu stehen, und mußte sich sozusagen selbst disziplinieren, um nicht plötzlich, gleich einem Träumenden, in ganz anderen Gefilden zu erwachen.

Der frühe Kritiker der modernen Technik hatte nicht nur zu seiner Stimme ein gebroche­nes Verhältnis, deren Tonfall ihn an die „geistig prüden Hannoveraner in mittleren Jah­ren“ erinnerte, „die mir seit jeher unangenehm gewesen sind“, sondern zu Ton- und Film­aufnahmen überhaupt: „Man hält sich den Dichter im Haus, kann ihn an- und abdrehen. Welch Glück, daß Derartiges zu Schillers Zeiten noch nicht erfunden war. Von Christus ganz abgesehen.“ So ist es nicht verwunderlich, daß nur eine Dreiviertelstunde von den insgesamt dreieinhalb Stunden Tonaufnahmen Lesungen sind: aus dem „Sanduhrbuch“ (1954), den „Subtilen Jagden“ (1967) und aus „Autor und Autorschaft“ (1994). Bei den ande­ren Aufnahmen handelt es sich um Mitschnitte von Interviews und Vorträgen.

Wenn Jünger in „Autor und Autorschaft“ bemerkt – auch diese Passage hat er auf Tonband aufgenommen –, die „beste Form des Interviews“ sei die einer „freundschaftlichen Unter­haltung, die beide Partner bereits durch den Genuß befriedigt, den sie gewährt“, so gilt das nicht für das lange Gespräch mit Curt Hohoff zu Jüngers 70. Geburtstag, noch weniger aber gilt es für das Interview mit dem Journalisten Ricardo Bada Diaz, das 1982 anläßlich des Besuches von Jorge Luis Borges bei Jünger in Wilflingen entstand.

Der große argenti­nische Dichter war eigens nach Deutschland gereist, um den Autor der „Stahlgewitter“ persönlich kennenzulernen. Auf Bada Diaz Frage nach Jüngers Urteil über die südameri­kanische Gegenwartsliteratur, die verrät, daß der Journalist in Jüngers Werk nicht zu Hau­se ist, antwortet Jünger mit entwaffnender Ehrlichkeit, daß er sich – Borges ausgenom­men – weder in der lateinamerikanischen noch in der deutschen Gegenwartsliteratur aus­kenne, abgesehen von „Solitären“, zu denen etwa der Dichter Rolf Schilling gehört.

Anders liegen die Dinge bei Curt Hohoff, einem ausgewiesenen Kenner des Jüngerschen Werkes. Aber auch hier will es nicht zu einer „freundschaftlichen Unterhaltung“ kommen, denn so­wohl Hohoff als auch Jünger tragen die schriftlich formulierten Fragen und Antworten vor, was dem Gespräch unfreiwillig komische Züge verleiht, so gehaltvoll es ohne Zweifel ist. So kommt Hohoff nicht nur auf Jüngers damals gerade erschienene erste Gesamtausgabe und die unterschiedlichen Fassungen seiner Werke zu sprechen, er stellt auch kluge Fra­gen zu Schlüsselbegriffen und zur Entwicklung von Jüngers Autorschaft, die vom Heroi­schen zum Humanen und – stilistisch – vom Expressionismus zum Surrealismus reiche.

Jünger schließt sich dem Urteil des bekannten Literaturwissenschaftlers zumeist an, setzt aber auch eigene Akzente, so etwa wenn er einen Zusammenhang zwischen seiner Lehre vom Überfluß und einer neuen Theologie herstellt, deren Begriff im Text allerdings durch „weiße Stellen“ ersetzt werden sollte, um das Eintreten neuer Götter zu ermöglichen. Ho­hoffs Resümee, daß in Jüngers Werken „Traumvisionen einer surrealen Welt“ beschworen werden, mag zu kurz greifen, zeugt aber von einem tieferen Verständnis von Jüngers Au­torschaft als deren Reduzierung aufs Politische, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg oft der Fall war.

Ein besonderes Kleinod der CD-Sammlung bildet Jüngers Vortrag in der Bayerischen Aka­demie der Schönen Künste (1964) über den mit ihm befreundeten Grafiker und Zeichner Alfred Kubin. Erstaunlich Jüngers Einfühlungsvermögen in das von Weltangst und alptraumhaften Visionen geprägte Werk von Kubin und seine Fähigkeit, sich auf den skurrilen, unter Verfolgungswahn leidenden Künstler einzulassen und ihn als Freund zu gewinnen. Jüngers stereoskopischer Blick bewährt sich auch bei Kubins Arbeiten, in denen sich für den Autor des „Abenteuerlichen Herzens “„hinter der vertrauten Erscheinung mächtige Perspektiven“ eröffnen.

Zeit seines Lebens hat sich Jünger mit Fragen zu Autor und Autorschaft beschäftigt, und so ist es nicht verwunderlich, daß zwei Aufnahmen diesem Thema gewidmet sind: die Goe­thepreis-Rede aus dem Jahr 1982 und eine 1994 für den Erker-Verlag entstandene Le­sung. Die Aufnahme aus der Frankfurter Paulskirche offenbart eindrucksvoll die innere Bewegtheit und den Stolz des 87jährigen Autors, an diesem so bedeutenden historischen Ort die Stimme erheben zu dürfen. Und dennoch mag Jünger nicht darauf verzichten, sich mit dem einen oder anderen Aphorismus als den großen Unzeitgemäßen und Unbequemen zu erkennen zu geben, der er ja auch war.

In der Lesung aus „Autor und Autorschaft“ medi­tiert der fast hundertjährige Jünger über das Verhältnis des Autors zur Gesellschaft und kommt zu dem Schluß, daß der Autor „neben der Gesellschaft“ stehe und seine Aufgabe „nicht sozialer Natur“ sei. Auch sei es verfehlt, „das Genie mit der Person“ des Autors gleichzusetzen, erhebe sich doch das Kunstwerk in seiner Autonomie über die lebensge­schichtlichen Niederungen des Autors. Ein Gedanke, der besonders heute, da Biographien wie die Pilze aus dem Boden schießen, zu denken geben könnte. Und es mag auch dieser Gedanke gewesen sein, der die Herausgeber der CDs dazu bewog, den berüchtigten Akti­onskünstler Jonathan Meese („Diktatur der Kunst“) für die Coverillustration zu gewinnen.

Unabhängig von den jeweiligen Themen, zu denen sich Jünger äußert, ist die Veröffentli­chung der Tonaufnahmen ein Geschenk, denn sie beschert dem Hörer noch einmal eine Begegnung mit dem abenteuerlichen Herzen, das bis ins biblische Alter nicht müde wurde, über die Wunder der Welt zu staunen.

Ernst Jünger: Mein Gegner ist die Sprache, Originaltonaufnahmen 1954–1995, 3 Audio-CDs, 195 Minuten, herausgegeben von Robert Eikmeyer und Thomas Knoefel, Brigade Commerz, 24,80 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen