© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

CD: V. Globokar
Engel der Geschichte
Jens Knorr

Auf dem Balkan weht ein Sturm! Was 1984 mit dem interdisziplinären Kunstprojekt NSK, Neue Slowenische Kunst, begonnen hat, mit Theater, Malerei und Musik, das hat sich mit der Zeit weit aufgefächert, und wer unbedingt so unterschiedliche Gesellen wie die Künstler des Musikprojekts Laibach, den Philosophen Slavoj Žižek oder den Posaunisten und Komponisten Vinko Globokar in eine Schublade stecken möchte, der sollte sie nicht in die slowenische tun, sondern in die postjugoslawische, die moderne nach der postmodernen: die retroavantgardistische.

Retroavantgarde, so das Konzept der NSK, basiert auf der Prämisse, daß Traumata der Vergangenheit, die sich auf Gegenwart und Zukunft auswirken, nur durch eine Rückkehr zu den ursprünglichen, auslösenden Konflikten geheilt werden können. Aus der zeitlichen Distanz erscheinen die Balkankriege der Neunziger, wo ethnische Separierung exakt entlang den Bruchlinien der verschiedenen ökonomischen Verfallsstadien vorgenommen wurde, als Vorwegnahmen des Schicksals, das Resteuropa beschieden sein wird. So sind einer Musik, die zu den auslösenden Konflikten zurückkehrt, jene Konflikte längst schon einkomponiert, denen wir Nichtjugoslawen uns damals fern noch wähnten.

Vinko Globokar stieß während der Komposition des ersten Teils seiner Trilogie für zwei Orchestergruppen, zwei Dirigenten, Tonbandeinspielungen, live-elektronische Verfremdung des Orchesterklangs und zwei Sampler, „Der Engel der Geschichte“, auf Walter Benjamins Text zu Paul Klees Bild „Angelus Novus“, jene neunte These über den Begriff der Geschichte, ein grundlegender Text, will einer die Kunst des 20. Jahrhunderts verstehen lernen. In den „Zerfall“, „Mars“ und „Hoffnung“ überschriebenen Teilen stehen jeweils zwei Prinzipien gegeneinander, wird eine musikalische Ordnung von einer anderen überlagert, in Unordnung gebracht, zerstört oder zerstört sich aus sich selbst heraus. Archaische Folklore aus den ehemaligen jugoslawischen Gebieten, Fetzen von Nationalhymnen der postjugoslawischen Kleinstaaten und elektronisch verfremdete Samples aus dem militärischen Bereich sind Hinweisschilder. Der Hörer, vor dessen Ohr sich Trümmer auf Trümmer musikalischen Materials häufen, sieht sich in die Position des Engels der Geschichte gezwungen, der Zukunft den Rücken gekehrt. Wenn Hoffnung im Werk ist, so kommt sie von ihm.

Die Einspielung durch das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg – Dirigenten: Fabrice Bollon und Martyn Brabbins – und das Experimentalstudio des SWR, Freiburg – Tontechnik und -regie: Reinhold Braig und Joachim Haas – entstand im Zusammenhang mit der Uraufführung auf dem Festival international des musiques d’aujourd’hui Strasbourg im September 2004.

Die Komposition von „Les Otages“ für Orchester von 2003, hier durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Arturo Tamayo eingespielt, bezieht sich auf Jean Fautriers Kriegsgeisel-Bilderserie, „übersetzt in stöhnende Schreie, zwischen gequältem Gekreisch.“ Wer nicht hören kann, soll lesen! Edoardo Sanguinetis Gedicht „Für Vinko“ ist im Beiheft abgedruckt.

Vinko Globokar, Der Engel der Geschichte col legno WWE, 2013 www.col-legno.com

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