© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Doch wir wissen nicht zu fragen
Solitär im Literaturbetrieb: Der Schriftsteller und Dichter Reiner Kunze wird achtzig
Thorsten Hinz

Reiner Kunzes Gedichte besitzen einen unverkennbaren Klang. Er ertönt mit einer schlichten Selbstverständlichkeit, so daß man die Verse zwei-, besser dreimal lesen muß, um zu erschließen, wieviel Arbeit an der Sprache darin steckt. Merkmale sind die äußerste Verknappung im Ausdruck, eine dialektisch-scharfe Gedankenführung und spröde Musikalität. In den neueren Gedichten ist die Komposition weicher geworden und wird von Melancholie und leisem Humor durchzogen: „So viele antworten gibt’s / doch wir wissen nicht zu fragen“. Der hohe, nur selten einmal überspannte Ton prägt auch seine Prosa, seine Reden und Interviews.

Reiner Kunze, 1933 im sächsischen Oelsnitz geboren, besaß alle äußeren Voraussetzungen für eine sozialistische Musterbiographie: Sohn und Enkel einfacher Bergarbeiter, gab die DDR ihm die Gelegenheit, Philosophie und Journalismus zu studieren. Er wurde SED-Mitglied. Sein weiterer Lebenslauf zeigt gleichfalls mustergültig, wie die sozialistische Bildungsrevolution unerwartete Kräfte freisetzte, deren die Partei dann nicht Herr wurde.

Kunze, ein empfindsamer Individualist, brach die begonnene Universitätskarriere ab und wurde freier Schriftsteller. Er nutzte seine Begabung und das erworbene begriffliche Instrumentarium, um die Spannung zwischen dem Individuum, das sich zu behaupten sucht, und der Unfreiheit des modernen Dogmatismus messerscharf zu sezieren. Unter dem Stichwort „Dialektik“ notierte er: „Unwissende damit ihr / unwissend bleibt / werden wir euch schulen“. Und unter „Ethik“ heißt es: „Im Mittelpunkt steht / der Mensch / Nicht / der Einzelne“.

Die Verse sind zu finden in dem Band „Sensible Wege“, der 1969 im Westen erschien und mit dem Kunze den Zorn der Parteiführung auf sich zog. Durch seine tschechische Frau – ihre Begeisterung für seine Lyrik stand am Anfang der Ehe – kam er in Kontakt mit den Reformkräften des „Prager Frühlings“. Mit seiner Niederschlagung durch Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 waren Kunzes Hoffnungen auf die Reformierbarkeit des Systems dahin.

1976 veröffentlichte er den Prosaband „Die wunderbaren Jahre“, eine Sammlung scharfgestochener Miniaturen über totalitäre Herrschaftspraktiken im Erziehungswesen der DDR. Kurze, beiläufige Sätze genügten ihm, um den „Wimpernschlag des Terrors“ zu veranschaulichen, wie Heinrich Böll in seiner Büchner-Preis-Laudatio auf Kunze rühmte. Für die DDR war er damit zum Feind geworden. 1977 sah er sich zur Ausreise in die Bundesrepublik genötigt. Hermann Kant, Präsident des Schriftstellerverbandes, rief ihm nach: „Kommt Zeit, vergeht Unrat.“ Doch auch Kollegen, die zur selben Zeit öffentlich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten, reagierten befremdet auf Kunzes illusionsloses DDR-Bild.

Der Staat forcierte seine Überwachungs- und Zersetzungsmaßnahmen. Kunze hat sie in dem Buch „Deckname ‘Lyrik’“ anhand ausgewählter Stasiakten rekonstruiert. Als Operationsbasis diente unter anderem die Nachbarwohnung. Als die Nachbarin mit der Zustimmung zögerte, wurde sie vom Ehemann gedrängt: „Mutti, wir dürfen uns an dem, was Kunze tut, nicht mitschuldig machen. Er ist kein Mensch unserer Gesellschaft, bei dem dürfen wir keine Skrupel haben.“

Vor der Mischung aus Biedermeier, staatlich induziertem Schuldgefühl und Brutalität entwich Kunze mit seiner Familie nach Niederbayern, wo er noch heute lebt. Als dezidierter Nichtlinker und SED-Gegner blieb er auch im Westen ein Solitär. In dem Gedicht „Die Mauer“ heißt es: „In ihrem schatten warfen / alle keinen schatten // Nun stehen wir entblößt / jeder entschuldigung“ (aus: „ein tag auf dieser erde“, 1998).

Seit Jahren wendet sich Reiner Kunze gegen die Verhunzung der deutschen Sprache. 2002 erhielt der leidenschaftliche Kritiker der Rechtschreibreform die von der Zeitung Deutsche Sprachwelt verliehene Auszeichnung „Rechtschreibwahrer des Jahres“. 2006 gründete das Ehepaar die „Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung“ mit dem Ziel, das Wohnhaus in Obernzell-Erlau bei Passau nach ihrem Tod als Archiv- und Ausstellungshaus, als „Stätte der Zeitzeugenschaft und Ort des Schönen“, zu erhalten.

Am 16. August begeht Reiner Kunze seinen 80. Geburtstag. „Plötzlich ruft der bach / mit der stimme deines vaters dich / beim namen // Mit der stimme, die am abend / vom hohen fensterhimmel / dem spiel ein ende setzte // ein strudellaut ... // Der rufer ist in dir, / und abend ist’s, mein sohn“.

Dieser Dichter ist mit sich im Reinen.

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