© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Soziale Marktwirtschaft
Die wahren Väter
Florian Josef Hoffmann

Was haben wir bei uns: die Soziale Marktwirtschaft oder eine soziale Marktwirtschaft? Man mag über diese Fragestellung verblüfft sein, weil es ja eigentlich zwischen der einen oder der anderen Alternative keinen Unterschied geben sollte. Aber die Frage ist dennoch berechtigt, weil der Begriff Soziale Marktwirtschaft in Deutschland und Europa sozusagen als Markenzeichen geschützt ist. Es handelt sich um eine Erfindung des Münsteraner Professors und späteren Staatssekretärs Alfred Müller-Armack aus den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber der Begriff ist auch das Markenzeichen des Vaters des „Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard, und er ist die Bezeichnung für eine erfolgreiche Periode deutscher Wirtschaftspolitik seit Ende der vierziger Jahre bis heute.

Neben dem Ludwig Erhards ist der Begriff Soziale Marktwirtschaft mit weiteren Namen verknüpft, die seit einigen Jahrzehnten allesamt als Väter der Sozialen Marktwirtschaft gelten: Alexander Rüstow (1885–1963), der Erfinder des Begriffs „Neoliberalismus“; Walter Eucken (1891–1950), dem Begründer der Freiburger Schule; Franz Böhm (1895–1977), ein CDU-Politiker, der dem Or-doliberalismus in Form des Kartellrechts im Jahr 1958 zum Durchbruch verhalf; Wilhelm Röpke (1899–1966), Anhänger eines „ökonomischen Humanismus“.

Breiter bekannt ist Müller-Armacks Leitidee: die Kombination der christlich-sozial-gewerkschaftlichen Komponente mit dem marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen des Ordoliberalismus. Sein Motto lautete: „Soziale Marktwirtschaft ist überall dort, wo man sich den Kräften des Marktes anvertraut und versucht, alle vom Staat, von den sozialen Gruppen anzustrebenden Ziele in dem Doppel­aspekt einer freien Ordnung und einer sozial gerechten gesellschaftlich humanen Lebensordnung zu verwirklichen“ (aus: „Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft“). Oder in knapper Form: „Marktwirtschaft plus Sozialstaat“.

Im Rahmen von Müller-Armacks Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entstanden in den mehr als sechzig Jahren Bundesrepublik die folgenden Sozialgesetze: im Jahr 1954 der gesetzliche Anspruch auf Sozialhilfe (den zwei Jahre zuvor das Bundessozialgericht feststellte). 1957 wurde die gesetzliche Rente dynamisiert, nachdem sie seit 1889 nur statisch berechnet worden war, im Jahr 1958 das Kartellrecht als „Grundgesetz“ der Sozialen Marktwirtschaft (Erhard) eingeführt. 1969 beschloß der Bundestag das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG), 1975 das Kindergeld, im Jahr 1986 das Erziehungsgeld und 1995 die Pflegeversicherung. Vorstehende kurze Beschreibung läßt die Vermutung zu, daß es neben der Sozialen Marktwirtschaft und deren „Vätern“ vor deren Stunde Null im Jahr 1946 noch eine soziale Marktwirtschaft mit anderen Gesetzen und anderen Vätern gab.

In der Tat ist eine solche Vermutung gerechtfertigt, weil wir ja schon von der Einführung der Bismarckschen Sozialgesetze im Jahr 1880 als einschneidendem sozialgesetzlichem Ereignis wissen. Einen weiteren Anhaltspunkt geben hie und da erwähnte Hinweise, daß die Soziale Marktwirtschaft selbstverständlich auch auf den Prinzipien der Christlichen Soziallehre fuße, vor allem der ersten Sozialenzyklika, mit welcher sich Papst Leo XIII. im Jahr 1891 in die Politik einmischte, um sowohl einen materialistischen Sozialismus als auch einen materialistischen Liberalismus zu verhindern.

Neben Papst Leo XIII. haben sich sozialpolitisch und sozialwirtschaftlich-theoretisch unter anderem folgende Persönlichkeiten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich profiliert, wobei es sich sowohl um eine politisch-praktische, als auch um eine professorale (vom Katheder ausgehende) Sozialbewegung handelte: der Mainzer Bischof Wilhelm von Ketteler (1811–1877), auch bekannt als Arbeiterbischof, der die katholische Zentrumspartei mitgründete; Gustav Schmoller (1838–1917), Gründer des Vereins für Socialpolitik und der jüngeren Historischen Schule; dessen Mitstreiter im Verein für Socialpolitik Lujo Brentano (1844–1931); der Theologe Heinrich Brauns (1868–1939), Zentrumspolitiker und acht Jahre lang Arbeitsminister der Weimarer Republik.

Unter deren Ägide wurden in den fünfzig Jahren zwischen 1880 und 1930 in Deutschland eine Fülle von Sozialgesetzen installiert; nur graduelle Verbesserungen sind nicht aufgeführt:

• 1883 Gesetzliche Krankenversicherung

• 1884 Gesetzliche Unfallversicherung

• 1897 Handwerkergesetz

• 1889 Invaliditäts- und Altersversicherung

• 1891 Arbeiterschutzgesetz

• 1901 Sonn- und Feiertagsruhe

• 1911 Gesetzliche Angestellten­versicherung

• 1918 Tarifvertragsverordnung

• 1920 Betriebsrätegesetz

• 1923 Kartellverordnung

• 1923 Arbeitszeitverordnung (40-Stunden-Woche)

• 1924 Reichfürsorgepflichtverordnung (Vorgänger der Sozialhilfe)

• 1926 Arbeitsgerichtsgesetz

• 1927 Arbeitsvermittlung / Arbeitslosenversicherung.

Zur vorstehenden Auflistung ist ergänzend zu vermerken, daß alle darin aufgeführten Gesetze – mit Ausnahme der Kartellverordnung von 1923 – bis heute wirksam sind. Sie haben zwar zur NS-Zeit in einigen Fällen zu den damals üblichen Umetikettierungen geführt, auch wurden in dieser Zeit gewerkschaftliche und tarifhoheitliche Freiheiten gewaltsam eliminiert, wurden jedoch in der Nachkriegszeit nach einer gewissen Periode der Selbstfindung von Staat, Verbänden und Gewerkschaften unverändert reaktiviert, haben also den Zusammenbruch sowohl des Kaiserreichs als auch des „1000jährigen Reichs“ unbeschadet überstanden.

Parallel zu den Sozialgesetzen hat der Gesetzgeber im gleichen Zeitraum von 1880 bis 1930 neben anderem mit dem Handwerkergesetz (1897) und der Kartellverordnung (1923) die gesetzlichen Grundlagen einer konsensorienten und korporativen Marktwirtschaft vervollständigt, nachdem die Wirtschaft vom Staat schon Jahrzehnte zuvor in den Handelskammern regional organisiert worden war (die sich seit 1924 Industrie- und Handelskammern nannten). Die Branchen der Wirtschaft selbst wiederum hatten sich – vom Staat gefördert – nach 1880 in Wirtschaftsverbänden und Kartellen selbst überregional organisiert. Frühere oder andere dynamisch sich entwickelnde Solidargemeinschaften, die des Handwerks (Zünfte) und des Handels (Gilden), aber auch Genossenschaften und Gewerkschaften, dienten der politischen Semantik als Vorbilder.

Vergleicht man nun die politischen Ergebnisse (Gesetzgebung) der Sozialen Marktwirtschaft nach 1946 mit denen der sozialen Marktwirtschaft vor 1930, so ergibt sich schon jetzt, daß spätestens im Jahr 1930 eine soziale Marktwirtschaft als Ergebnis eines 50jährigen Prozesses systematischer Gesetzgebung fertig installiert war und bis heute fast unverändert rechtswirksam ist. Es ergibt sich somit auch zwingend, daß die theoretischen Überlegungen der sogenannten „Gründerväter“ zum Konzept dieser alten sozialen Marktwirtschaft schon angesichts der mageren gesetzlichen Ausbeute nach 1946 kaum einen Beitrag geleistet haben. Ihr Beitrag ist allein wirtschaftspolitischer, nicht sozialpolitischer Art, was sich aber auch erst nach 1958, also nach dem „Wirtschaftswunder“, in Form des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gesetzlich manifestierte.

Noch ein paar Worte zum Geist der Zeit des 19. Jahrhunderts, der Zeit der industriellen und der sozialen Revolutionen: Der Kommunismus war zwar in Deutschland erdacht, wurde aber erfolgreich verdrängt durch das Ergebnis eines gesteuerten Prozesses hin zu einem korporatistischen System aus Verbands- und Kammernwirtschaft, das heißt zu einem konsensorientierten Wirtschaftssystem. Exemplarisch für die Aufbruchsstimmung genannt seien die Tausenden von Gründungen von Kredit-, Einkaufs-, Konsum-, Wald-, Wohnungsbaugenossenschaften, Sparkassen und Molkereien. Exemplarisch seien auch die Gründer von Branchen- und Industrieverbänden genannt, motiviert durch einen liberalen Kanzler Bismarck, aus dem ein Befürworter von Interventionen und Protektion geworden war und ein Protagonist von Korporation von Staat und Wirtschaft.

Die erfreuliche Folge waren dreißig Jahre lang Hochkonjunktur zur Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Folge war eine blitzschnelle wirtschaftliche Erholung nach der Währungsreform des Jahres 1923 und sechs Jahre wirtschaftlicher Blüte („Goldene Zwanziger“). Die Folge war auch ein erneutes „Wirtschaftswunder“ in den fünfziger Jahren nach einer erneuten Währungsreform im Jahr 1948.

Man kann eigentlich kaum ahnen, mit welcher Energie kurz vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg Sozialgesetze durchgeboxt wurden, die bis heute Gültigkeit haben – und die dann in Heinrich Brauns (unterstützt von seinen politischen Mitstreitern in der katholischen Zentrumspartei Franz Hitze, Georg von Hertling und anderen) einen dynamischen Förderer fanden, der in acht Jahren als Arbeitsminister diese soziale Marktwirtschaft komplettierte und sich dabei stets auf Papst Leo XIII. und Bischof Ketteler berief.

Auch der Deutsche Bundestag hat sich dann ein Vierteljahrhundert später in seiner sozialpolitischen Grundsatzentscheidung im Jahr 1956 für die dynamische Rente und für das christlich-soziale-gewerkschaftliche Konzept der ursprünglichen Sozialdenker entschieden. Weil es aber im Jahr 1957 dem ordoliberalen Flügel um Ludwig Erhard und Franz Böhm durch die Durchsetzung einer wirtschaftspolitischen Gesetzesmaßnahme gelang, das anglo-amerikanische Kartellrecht zu implantieren, konnte sich in Deutschland und auf EU-Ebene die Gegenidee zur konsensorientierten Marktwirtschaft, der Ordoliberalismus und sein Kartellverbot, über die Jahrzehnte Schritt für Schritt durchsetzen.

Die sozialpolitische Grundsatzentscheidung wurde konterkariert, die Konsequenzen sind bekannt: sukzessives Zurückdrängen der wohlstandsfördernden Wirkung der Solidargemeinschaften, eine Entsolidarisierung unserer Gesellschaft, die die Gerechtigkeitsfrage von Jahr zu Jahr drängender werden läßt. „Wohlstand für alle“ ist auf dem Rückzug, die Einkommensschere öffnet sich. Ihre Öffnung ist anerkannt, wird diskutiert. Aber man greift nicht auf die richtigen Konzepte zurück, sondern sucht ebenso fieberhaft wie vergeblich in den Schriften der falschen Väter der Sozialen Marktwirtschaft nach Rezepten.

Wenn also irgend jemand vom Jahr 1946 von der „Stunde Null“ der Sozialen Marktwirtschaft spricht, so kann er nur den Begriff an sich meinen. Eine echte soziale Marktwirtschaft war spätestens am Ende der Weimarer Republik vollumfänglich implementiert. Die späteren Protagonisten oder Propagandisten der Sozialen Marktwirtschaft, vornehmlich die des Ordoliberalismus, haben in ihrem Ansehen in den vergangenen sechzig Jahren von der wunderbaren Wirkung der Solidargemeinschaften in der Wirtschaft wohl zu Unrecht profitiert.

Zugleich wurde durch diese falschen „Väter“ und deren Texte die Besinnung auf das wahre Konzept einer sozialen Marktwirtschaft und dessen Fortentwicklung unterbunden. Und nicht zuletzt die globale Verbreitung der sozialen Marktwirtschaft und die Multiplikation ihrer Normen in aller Welt seit mehr als sechzig Jahren blockiert. Eine Besinnung auf die wahren Väter einer sozialen Marktwirtschaft, insbesondere auf Bischof von Ketteler, würde dem Wohlstand in der Welt nur guttun.

 

Florian J. Hoffmann, Jahrgang 1946, ist Rechtsanwalt, IHK-Präsident a. D., Buchautor und Leiter des „European Trust Institute“ und bekannt als „Kartell-Rebell“, der die alte soziale Marktwirtschaft wiederhergestellt haben möchte.

www.eu-trust.org

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