© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Ein rhetorischer Traum
Das medienhistorische Ereignis der Rede „I have a dream“ von Martin Luther King ging in das politische Vermächtnis der USA ein
Mario Kandil

Bis heute ist Martin Luther Kings Rede vom 28. August 1963 eine Legende geblieben – und sicher auch ein Traum im Sinn einer Wunschvorstellung. Denn trotz der Präsidentschaft Barack Obamas als erstem Schwarzen sind die USA nach wie vor weit von dem entfernt, was sich der Bürgerrechtler vor fünfzig Jahren erhoffte.

Durch die USA der fünfziger und sechziger Jahre ging ein tiefer Riß, der sich speziell in der Rassenfrage manifestierte. Zwar erklärte der Oberste Gerichtshof 1954 die Rassentrennung in den Schulen für verfassungswidrig, doch hielt die landesweite Benachteiligung der Schwarzen an und war traditionell in den Südstaaten besonders stark. An den Amtsantritt von Präsident John F. Kennedy 1961 knüpften die Schwarzen daher immense Hoffnungen. In der Tat unterstützte er die Bürgerrechtsbewegung als Sammelbecken für weiße und schwarze US-Amerikaner, die mit Märschen nach Washington und in die Südstaaten für die Gleichberechtigung demonstrierten. Dabei kam es wiederholt zu blutigen Auseinandersetzungen, die zeigten, wie dicht das Land vor einem Bürgerkrieg stand.

Einer dieser großen Märsche war der „Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit“, den King und andere Anführer der Schwarzen trotz Kennedys Widerstreben am 28. August 1963 ins Werk setzten. Dem Aufruf folgten mehr als 250.000 Menschen, darunter 60.000 Weiße. Martin Luther King, der dem Präsidenten bei seiner Bürgerrechtsgesetzgebung zu sekundieren trachtete, hielt an diesem Tag vor dem Lincoln Memorial seine wohl berühmteste Rede, die bis heute als ein Meisterwerk der Rhetorik gilt. Unter Verwendung von Auszügen aus diversen Texten wie der Bibel, der US-Unabhängigkeitserklärung und US-Verfassung kulminierte die wie eine Predigt gehaltene Rede in dem wiederholten „I have a dream“. Diese Formulierung hatte mit dem „American Dream“ zu tun, der für die meisten Schwarzen unerreichbar geblieben war. Unmittelbare Konsequenzen der Rede bestanden für King darin, daß er einerseits durch das von J. Edgar Hoover geführte FBI intensiv überwacht wurde. Andererseits trug King seine historisch zu nennende Rede 1964 den Friedensnobelpreis ein.

Bereits vor seiner Ermordung am 4. April 1968 eine Legende, ist Martin Luther King dies seit seinem gewaltsamen Tod in noch stärkerem Maße. King zählt heute zu den meistverehrten Personen der US-Geschichte. Sogar ein nationaler Feiertag zu Ehren Kings wurde 1986 etabliert, und überdies erfuhr er eine Vielzahl posthumer Ehrungen, national wie international.

Nun hatte und hat Dr. King – dessen Dissertation partiell aus nicht gekennzeichneten Kopien anderer Autoren besteht, ohne daß ihm deswegen der Doktortitel aberkannt wurde – auch unter seinen schwarzen „Brüdern“ viele Gegner. So kritisierte der militante Bürgerrechtler Malcolm X nicht nur Kings Führungsrolle, sondern auch und vor allem dessen Grundsatz, einzig gewaltfrei Protest zu üben, weil so das System der Unterdrückung der Schwarzen überhaupt nicht verändert werden könne.

Die „Organization of Afro-American Unity“, die der 1965 ermordete Malcolm X gegründet hatte, ging offiziell auf Distanz zu Kings gewaltfreiem Widerstand. Trotzdem prägte dieser in der Folgezeit die Schwarzen-Bewegung in den USA weit stärker als Malcolm X mit seinem Konzept einer militanten Opposition.

In seiner King-Biographie „I May Not Get There with You: The True Martin Luther King“ (New York 2000) fordert der 1958 geborene Soziologieprofessor und Publizist Michael Eric Dyson, man solle Kings Rede „I have a dream“ für zehn Jahre verbieten, denn sie zeichne ein einseitiges Bild des zu einem Heiligen mit menschlichen Schwächen verklärten Friedensnobelpreisträgers. Obwohl er selbst Afroamerikaner ist, „entzauberte“ Dyson übrigens auch Malcolm X in einem stark beachteten Buch von 1995 (Making Malcolm: The Myth and Meaning of Malcolm X).

So weit wie Dyson will ein anderer renommierter King-Biograph, Peter Ling aus Nottingham, nicht gehen. In seinem Buch „Martin Luther King, Jr.“ (London 2002) weist er darauf hin, daß King mannigfaltige Facetten in sich vereinigte. Weiter erwähnt Ling, daß es sich bei Kings großer Rede nicht nur um ein politisches, sondern auch um ein medienhistorisches Ereignis handelte: Sie sei neben der berühmten Ansprache John F. Kennedys von 1961 die wichtigste im US-Fernsehen bis dato gezeigte Rede gewesen. Zugleich sei „I have a dream“ eine der ersten großen Live-Berichterstattungen überhaupt gewesen.

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