© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/13 / 23. August 2013

Eremit im Selbstzweifel
Kino: Der Dokumentarfilm „Sâdhu“ folgt den Spuren eines heiligen Mannes
Claus-M. Wolfschlag

Der Schweizer Dokumentarfilmer Gael Métroz bereist seit einigen Jahren die Welt und filmt Philosophen und religiöse Einsiedler, die Erfüllung in der unzeitgemäß wirkenden Entsagung und Gottsuche finden. Dabei hat er auch hinduistische Heilige in Indien und Nepal gefilmt. Diese „Sadhus“ (aus dem Sanskrit für „guter Mann, heiliger Mann“) legen ein Armuts- und Keuschheitsgelübde ab, entsagen also den materiellen Gütern zugunsten der Spiritualität. Dafür pflegen sie die Meditation und auferlegen sich viele Kasteiungen gegen die Lockrufe des Körpers.

Für sein neuestes Projekt „Sâdhu“ war Regisseur Métroz auf der Suche nach einem solchen heiligen Mann, den er nun aber als Hauptfigur für eine längere Einzelbetrachtung filmen wollte. Als er dem Sadhu Suraj Baba erstmals nahe der Ganges-Quelle im Himalaya-Gebirge begegnete, besserte dieser gerade den Weg zu der schlichten Höhle aus, die ihm schon seit acht Jahren als Behausung dient. Métroz half ihm, Steine zu tragen, trank Tee mit ihm, ehe sich der Sadhu wieder dem Yoga widmete.

Métroz fand in einer benachbarten Höhle Unterschlupf, und in den nächsten Wochen entstand eine Freundschaft zwischen den beiden Männern. Dabei geschah Ungewöhnliches, und dieses Element hebt den Film von üblichen Darstellungen heiliger Eremiten deutlich ab. Gewöhnlich wird nämlich der Weg eines Menschen aus der materiellen Welt hin in die spirituelle Sphäre gezeigt. Oder man sieht Mönche und Heilige in der von ihnen letztendlich gefundenen Ruhe und ihrem durch Rituale geprägten Tagesablauf. In Métroz’ Film begegnet man hingegen einem weisen Eremiten im Selbstzweifel. Die Lebens- und Sinnkrise führt also nicht in die spirituelle Sphäre, sondern zurück in die Welt.

Das Leben des hier gezeigten Einsiedlers war vom Hausen in seiner dunklen Höhle, kalten Nächten bei verglimmendem Feuer und der täglichen Waschung, nackt im Gebirgswasser, geprägt. Ein kleines Radio versorgte ihn mit Geräuschen von der Außenwelt. Gael Métroz spürte, daß Suraj Baba sich mittlerweile in dieser Einsamkeit gefangen fühlte, sich aber nicht mehr traute, in die Welt zurückzukehren.

Der Regisseur erzählte ihm vom religiösen Kumbh-Mela-Fest, das alle zwölf Jahre bis zu 70 Millionen Pilger anzieht, und Suraj Baba bat darum, ihn mitzunehmen. Während der Fahrt und der Ankunft in dem bunten Trubel spürt man förmlich, wie Suraj Baba aufblüht. Seine Augen funkeln, er genießt das Treiben, tritt in Kontakt zu anderen Gottsuchern. Doch nach einigen Tagen schleicht sich bei ihm Ernüchterung ein. Rasch erkennt der Eremit die Eitelkeit, die Maskerade hinter vielen Riten und Hierarchien. Er fühlt sich bestätigt, seinen Weg nur allein gehen zu können, doch dieser erfolgt nun in Form einer Pilgerfahrt nach Nepal, zu den im kargen Hochgebirge gelegenen heiligen Seen.

Gael Métroz begleitete Suraj Baba monatelang. Sie schliefen am Flußufer und ernährten sich von Gaben der Pilger. Die Selbstzweifel des Sadhu werden von diesem offen angesprochen. Er berichtet, wie seine Seele zerrissen ist zwischen dem opfervollen Wunsch nach spiritueller Reinheit und Entsagung auf der einen und der Sehnsucht nach der materiellen Welt und der Zweisamkeit mit einer Frau auf der anderen Seite. Irgendwie sei er aus dem Gleichgewicht, reflektiert er. So legt Suraj Baba überraschenderweise während der Fahrt sein Askesegelübde ab, trinkt gar Alkohol und raucht Zigaretten, während er gleichzeitig unbeirrt seinen Weg geht und regelmäßig meditiert.

Daß man dem weisen Zweifler menschlich so nahe kommt, mag auch daran liegen, daß er in Teilen durchaus westlich wirkt. Dies nicht nur aufgrund seiner Physiognomie. Suraj Baba spricht perfekt Englisch, man merkt ihm an, daß er aus einer bürgerlichen Familie stammt. Zudem ähnelt er stark westlichen Hippies, wenn er mit langen Haaren und Rauschebart zur Gitarre greift und englischsprachige Rocklieder singt. Hier hat man keinen klassischen Sadhu vor sich, was sich auch in gewissen Konflikten mit anderen Heiligen offenbart.

Gael Métroz zeigt einen zweifelnden und seinen Weg suchenden Asketen, eine Pilgerfahrt durch wunderschön exotische Szenerien. Und sein Film stellt die Frage nach der indischen Spiritualität von einer ganz direkten Warte aus, interpretiert sie teils als großes Geschäft und Show und beweist letztlich in Suraj Baba dennoch ihre Existenz.

 

Dokumentation über Unfallopfer

„From One Second To The Next“ (Von einer Sekunde auf die andere) heißt ein 35minütiger Dokumentarfilm von Werner Herzog, der derzeit auf Youtube für Beklemmung sorgt. Herzog erzählt darin von vier schweren Unfällen mit zum Teil tödlichem Ausgang, die von Autofahrern verursacht wurden, die während der Fahrt eine SMS geschrieben haben.

http://www.youtube.com/

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