© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/13 / 23. August 2013

Europabegeisterung
Ein moderner Ablaß
Erik Lehnert

Europa war für Gottfried Benn 1913 nur ein „Nasenpopel / Aus einer Konfirmandennase“. Statt dessen wollte er nach Alaska gehen, wo es noch den Mann gäbe, „der Robben frißt, der Bären totschlägt, der den Weibern manchmal was reinstößt“. Kommt hier so etwas wie die Sehnsucht nach einer Archaik zum Ausdruck, die das dekadente Europa schon längst nicht mehr zu bieten hatte, sah Benn am Ende seines Lebens die einzige Chance zum Wiedererstehen Europas in den Wenigen, die „das archaische Heimweh nach der Herde in sich bekämpfen und sich vom Staat absondern, um ihre eigenen Aufgaben zu erfüllen“. Dieser denkbar große Anspruch steht in einem deutlichen Gegensatz zu denjenigen, die das Wort Europa heute im Munde führen. Und das sind so ziemlich alle.

Partei- und lagerübergreifend ist Europa eines der Heilsworte, die gute Absichten signalisieren, mit der oftmals schwierigen Realität aber nichts zu tun haben. Natürlich gibt es an Europa auch Kritik, aber nur konstruktive, weil jeder eine andere Vorstellung von einem idealen Europa hat. Aber grundsätzlich sind sich alle gesellschaftlich relevanten Gruppen, alle Parteien von der Linkspartei bis zu den Nationaldemokraten einig, daß unsere Zukunft in Europa liegt. Das Spektrum reicht dabei vom Europa als Hort der Gleichheit bis zum Europa der Vaterländer, und es gibt auch genügend Kritik an der real existierenden Europäischen Union, die einige reformiert und andere abgeschafft sehen wollen. Im Grunde bleibt Europa dabei aber ein so schwammiger Begriff, daß jeder das in ihn hineinlegen kann, was er gerne möchte. Für die einen ist Europa dann eine Ansammlung von Nationalstaaten oder Regionen, für andere ein Wirtschaftsverbund und für wieder andere eine kulturell-historische Einheit.

Darüber hinaus herrscht jedoch ein merkwürdiger Konsens. Dieser Konsens besagt, daß es sich bei Europa um einen der Begriffe handelt, deren Gültigkeit außer Frage steht und deren Bedeutung nicht hinterfragt werden sollte. Er besagt auch, daß derjenige, der es doch tut, sich außerhalb der Gemeinschaft der Wohlmeinenden stellt und insofern sein Mitspracherecht eingebüßt hat. Einen solchen Konsens hat es zu allen Zeiten gegeben, doch es hat noch keine Zeit gegeben, die diesen Konsens so knallhart eingefordert hat, ihn von allen Seiten eingehalten sieht und dabei gleichzeitig freiheitliche Pluralität behauptet.

Zu den heutigen Begriffen, auf die sich der Konsens erstreckt, gehören neben Europa beispielsweise noch Demokratie, Gleichheit und Humanität beziehungsweise Menschheit. Während man Demokratie als Heilsbegriff ablehnen und sie als pragmatische Form politischer Willensbildung durchaus befürworten kann, fällt die Differenzierung bei den anderen Begriffen schwerer. Hier nützt es wenig, sich auf metaphysische Gültigkeiten zurückzuziehen, weil diese Begriffe strenggenommen keine Begriffe sind, weil sie nichts Konkretes bezeichnen.

Europa ist, soviel ist sicher, ein Kontinent, der sich durch reiche Gliederung auszeichnet und der sich die Welt untertan gemacht hat. Ohne Europa gäbe es die Welt, wie sie heute ist, nicht. Allerdings wurde diese Leistung nicht von den Europäern erbracht, sondern von deutlich abgegrenzten Völkern, Nationen und Staaten. Aus der Sicht der jeweiligen unterworfenen Eingeborenen waren das natürlich alles Europäer, weil alle Weißen Europäer waren.

Ein Teil der Europabegeisterung auf der rechten Seite scheint sich aus dieser Gemeinsamkeit zu speisen. Europa agierte damals als Welteroberer und steht heute gemeinsam gegen den Ansturm von Flüchtlingen aus aller Welt und muß sich der von diesen hier etablierten Sitten und Gebräuchen erwehren. Doch ist es etwas voreilig, von ähnlichen Problemen auf Gemeinsamkeiten zu schließen, die mehr wären als statistisches Material.Es gibt keine europäische Identität, so wie es auch keine Heimat Europa gibt, es sei denn, man wollte diese Wörter jeglichen Sinns berauben.

Was es gibt, ist eine europäische Geschichte, die sich vor allem auf die Dynastien stützen konnte, die eben wirklich europäisch waren. Demokratie und Nationalstaat haben damit ein Ende gemacht. Überlebt hat davon einzig allein die vage Idee einer europäischen Geistestradition – die systematisch zerstört wurde und weiterhin, allem Europagerede zum Trotz, zerstört wird. Gottfried Benn war der Auffassung, daß Europa nicht „an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung“ zugrunde geht, sondern „an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen“. Benn nennt schon damals (1948) Demokratie und Humanität als Beispiele, die, am Maßstab des Produktiven (der europäischen Regeneration) gemessen, nur sekundären Charakter haben. Begriffe wie Menschheit und Europa haben ebenfalls diese Eigenschaft.

Doch es geht nicht nur um den sekundären Charakter dieser Begriffe: Fast jeder, der das Wort Europa positiv gebraucht, verbirgt dahinter etwas. Vielleicht will er nur Anerkennung als ein Mensch, der die Zeichen der Zeit verstanden hat. Vielleicht will er an einer größeren Idee teilhaben, seinem Leben einen Sinn geben. Meistens will er betrügen, notfalls sich selbst. Das Diktum Carl Schmitts „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, gilt ebenso für Europa. Schmitts Satz faßt die Tatsache zusammen, daß man sich unter dem Begriff Menschheit sammelt, um dem Feind die Menschlichkeit abzusprechen. Er sieht darin deshalb ein „brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen“.

Europa ist, ebenso wie Menschheit, „kein politischer Begriff, ihm entspricht auch keine politische Einheit oder Gemeinschaft und kein Status“ (Schmitt). All das wird Europa zwar zugesprochen, ist jedoch nicht vorhanden. Jedenfalls nicht so, daß es sich einer wirklichen Auseinandersetzung stellen könnte, ohne zu zerbrechen. Das zeigte sich schon in den kleinsten Konfliktlagen, beispielsweise dem Irak-Krieg. Europa wird jedoch nicht für Expansionen mißbraucht, sondern zur Beseitigung der Unterschiede der europäischen Völker und Nationen. Insofern soll auch im Namen Europas nur eine Auffassung als gültig exekutiert werden. Mit einem Begriff von Europa als „Europa der Vaterländer“ oder „Regionen“ zu operieren, ist dagegen kein Betrug, sondern Selbstbetrug, weil politisch nichts dahintersteckt als ein Wunschtraum, der von vielen Betroffenen nicht einmal geteilt wird. Europa war immer dann stark, wenn einzelne der europäischen Nationen und Völker es waren.

Daß Politiker mit dem Begriff Europa operieren, mag verständlich sein, weil sich ihre Teilhabe an der Macht eben auch danach gestaltet, wie sie sich dazu stellen. Und dennoch ist auch hier nicht von der Hand zu weisen, daß jeder, der Europa sagt, betrügen will – notfalls sich selbst. Der deutsche Gebrauch von Europa ist ganz eindeutig von dem Wunsch nach nationaler Selbstabschaffung bestimmt, was sich nicht zuletzt in zahlreichen Übernahmen europäischer Maßstäbe niederschlägt, die gar nicht notwendig gewesen wären; man denke nur an den Bachelor-Abschluß der Universitäten.

Über diese Tendenz darf auch die Behauptung nicht hinwegtäuschen, daß Deutschland Europa durch seine wirtschaftliche Potenz an der langen Leine führe. Es bestehen dort zwar Abhängigkeiten – gegen die sich Deutschland aber nicht wehren kann, weil sein politisches Gewicht in Europa nicht seinem wirtschaftlichen entspricht. Deutschland ist zwar der Zahlmeister, aber es kann dafür keine Gegenleistungen verlangen. Wenn in den anderen Staaten jemand „Europa“ sagt, will er das deutsche Volk betrügen und für sein Land das meiste rausholen. Und nicht zuletzt ist es ein gutes Gefühl, seine Interessenpolitik mit einem vermeintlich guten Ziel, der europäischen Einigung, gleichzusetzen.

Es bleibt dabei, daß Staaten keine Freunde haben, sondern Interessen. Daß die anderen Nationen in Europa etwas anders gestrickt sind als die deutsche, hat historische Gründe. Schließlich wurden EU und Euro nicht zuletzt dazu ersonnen, um Deutschland einzuhegen. Das ist so gut gelungen, daß der so Behandelte die Gründe seiner Feinde zu den seinen gemacht hat. Wenn irische Banker sich über die Dummheit der Deutschen belustigen, die immer wieder als Zahlmeister einspringen, so steht diese Begebenheit nur beispielhaft für eine Geisteshaltung und damit den Zustand von Europa.

Doch wäre es töricht, die Schuld nur bei den anderen zu suchen. Laut Arnold Gehlen haben die Deutschen nach 1945, insbesondere aber im Zuge von 1968, „die Zwischeninstanzen zwischen Familie und Menschheit moralisch“ preisgegeben und statt dessen „den abstrakten Humanitarismus“ zur „selbstverständlichen Leitmoral“ erhoben. Der Nutzen dieses humanitären Ethos liegt in der Befreiung des Gewissens, indem „es die Gegenposition politisch-staatlicher Wachsamkeit bagatellisiert“ und damit den Menschen von der ewigen Frage von Schuld und Verantwortung befreit. Im Humanitarismus sieht Gehlen die Hypertrophie des Humanismus. Also die übermäßige Vergrößerung von Begriffen, eine unzulässige Ausdehnung, die das, was ursprünglich gemeint war, letztlich ins Gegenteil verkehrt.

Die Deutschen haben ihre Hausmoral, die sich auf den Frieden und den Ausgleich im eigenen Staat bezog und die dazu diente, mit dieser Geschlossenheit Angriffe von außen besser abwehren zu können, überdehnt. Sie sehen mindestens Europa, wenn nicht die ganze Welt unter dem Blickwinkel des humanitären Ethos. Das wird spätestens dann zum spürbaren Problem, wenn es andere gibt, die durchaus noch zwischen Eigenen und Fremden differenzieren können und dies auch wollen. „Der Alleinherrschaft dieses Ethos sehen wir solange mit Besorgnis entgegen, als es keine Weltgesellschaft in einem Weltstaat gibt und es daher noch offenbleibt, welcher Kontinent einmal seine Eigeninteressen als die der Menschheit ausgibt“ (Gehlen).

Ein „Europa der Vaterländer“ ist daher als Polemik gegen die Zentralisierungsbestrebungen der EU ganz brauchbar, bleibt aber selbst dem Europabetrug verhaftet. Letztlich gibt es keine europäischen Interessen, für die sich die jeweiligen Europäer oder deren Vaterländer opfern würden. Solange der Selbsterhaltungstrieb noch nicht völlig der Degeneration zum Opfer gefallen ist, wird immer zuerst die eigene Nation, das eigene Volk, die eigene Stadt auf der Prioritätenliste ganz oben stehen. Wenn das auch in Deutschland wieder selbstverständlich ist, mag man sich über Europa unterhalten. Bis dahin bleibt nur, den großen Anspruch einer Wiederauferstehung in Deutschland wachzuhalten.

 

Dr. Erik Lehnert, Jahrgang 1975, Philosoph und Historiker, ist seit 2008 Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschland in Europa („Mitte und Ordnung verloren“, JF 11/13).

Nach Einschätzung vieler steckt die europäische Staatengemeinschaft in einer tiefen Legitimationskrise.

Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht unser Kontinent politisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell? Gibt es Perspektiven für ein einiges Miteinander selbstbestimmter Völker jenseits des ungeliebten Brüsseler Zentralismus? Der Philosoph Erik Lehnert sagt: die falsche Frage. Europa – ein Selbstbetrug, Europa – nicht einmal ein politischer Begriff.(JF)

Foto: Europäisches Parlament in Straßburg: Europa ist einer der leeren Heilsbegriffe, deren Gültigkeit nicht hinterfragt werden soll. Wer es doch tut, verliert sein Mitspracherecht.

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