© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Nur schnell nach Westen kommen
Polen: Die große Anzahl illegaler Migranten aus dem Nordkaukasus setzt Warschau unter Druck
Christian Rudolf

Die Zahl der Asylanträge russischer Staatsbürger steigt in Polen stark an. Aus Sicherheitskreisen ist zu erfahren, daß über 90 Prozent der Antragsteller tschetschenischer Abstammung sind. Ihre Hauptwanderroute führt von Moskau über das weißrussische Brest, wo sie ohne Einreisevisum mit dem Regionalzug die Grenze zur Europäischen Union überqueren. Im polnischen Terespol haben sie erstmals Kontakt mit polnischen Grenzern. Viele werden sofort wieder in die Bahn gesetzt und zurückgeschickt. Die meisten von denen, deren Asylbegehren angenommen wird, tauchen dort ab und reisen illegal nach Westen weiter.

Der zunehmende Druck auf die EU-Grenzen ist einer Stimmung der „letzten Gelegenheit“ unter den Tschetschenen geschuldet. Seit dem Anschlag von Boston im April, der von Attentätern mit tschetschenischem Hintergrund begangen worden war, stehen sie unter besonderer Beobachtung. Diesen „Boston-Effekt“ ermittelte eine Analyse der polnischen Ausländerbehörde. Dazu kommen verstärkte Aktivitäten von Schlepperfirmen sowie eine verbreitete antikaukasische Stimmung in Rußland.

Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes sind im ersten Halbjahr 2013 3.141 Asylanträge gestellt worden, die 9.500 Personen betreffen. Davon sind 8.730 russische Staatsangehörige. Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex verzeichnet eine Verdoppelung der Immigrantenzahl aus der Russischen Föderation im Vergleich zum Vorjahr. Die polnische Ausländerbehörde erwartet, daß bis Ende des Jahres 26.000 Einwanderer aus dem Nordkaukasus in Polen Asyl begehren könnten. Mehr als 20.000 würden in Belarus auf eine Gelegenheit warten, in die EU einzureisen, zitierte die FAZ zu Monatsbeginn einen hohen weißrussischen Grenzschutzbeamten. Im Gegensatz zur Situation an den offenen Seegrenzen des Mittelmeers versuchten diese kaum, über die grüne Grenze nach Polen zu gelangen, sondern benutzten die offiziellen Übergänge.

Nur höchstens 30 Prozent der Antragsteller beachten die polnischen Auflagen, sich bei den Aufnahmestellen zu melden und das Land nicht mehr zu verlassen. „Einige Flüchtlinge warten die Entscheidung der Ausländerbehörde nicht ab und begeben sich in die Länder Westeuropas, was unvereinbar mit dem internationalen Recht ist“, so die Sprecherin des Grenzschutzes, Agnieszka Golias, gegenüber der Tageszeitung Rzeczpospolita.

Deutschland ist zur wichtigsten Zielstation der Tschetschenen geworden. Hier stellen die Durchreisenden oftmals ein zweites Mal einen Asylantrag. Mehr als 10.000 russische Staatsangehörige begehrten bis Mitte Juli Asyl. Im Vorjahr waren es insgesamt nur 3.200 Anträge. Wie viele davon zuvor von polnischen Behörden registriert wurden, ist unbekannt. Auch deshalb, da aufgrund des großen Andrangs in Terespol das Eurodac-System (JF 11/03) zum EU-weiten Abgleich von Fingerabdrücken von Immigranten nicht richtig genutzt werden kann.

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