© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Europäischer Einigungsprozeß
Gehört Griechenland zu Europa?
Konrad Adam

Die Frage, ob Griechenland zu Europa gehört, klingt provokant. Das soll sie auch. Wer sich in der antiken Mythologie auskennt, wird sich daran erinnern, daß Europa eine phönizische Königstochter war, die, vom Göttervater Zeus in der Gestalt eines weißen Stieres betört, übers Meer nach Kreta entführt wurde, wo sie in einer Höhle des Berges Ida zur Stammutter der griechischen Heroen – und damit eben auch zur Ahnfrau der europäischen Kultur wurde. Diese Kultur ist von Anfang an griechisch geprägt, so daß die Frage, ob Griechenland zu Europa gehört, abwegig erscheint. War es doch dieser Boden, der das meiste von dem hervorgebracht hat, was wir als genuin europäischen Beitrag zur Bildung, zur Wissenschaft und zu den Künsten betrachten. Und nicht nur das; auch die Grundzüge der abendländischen Verfassungsgeschichte, die Vorstellung von Demokratie und Mitbestimmung, von Volkssouveränität und freien Wahlen sind griechischen Ursprungs. Wie sollte ein Land, dem dies und noch viel mehr zu verdanken ist, nicht zu Europa gehören?

Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal nach Griechenland fuhr, gab es weder Mobiltelefon noch Internet. Man schrieb Briefe, und als ich einen von ihnen zur Post trug, um mich nach dem korrekten Namen für Deutschland zu erkundigen, erklärte mir der Postbeamte ungerührt, ich solle „Ewropi“, Europa also, schreiben. Für ihn gehörte sein Land ganz offensichtlich nicht zu Eu­ropa, und nicht nur für ihn: Die meisten seiner Landsleute empfanden und sprachen wie er. Die Deutschen haben dazu einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag geleistet, als sie im Zweiten Weltkrieg ihren italienischen Bundesgenossen, die sich mit der Eroberung Griechenlands übernommen hatten, mit Panzern und Kanonen zu Hilfe kamen. Die Griechen haben das bis heute nicht vergessen.

Kehrt man aus dieser Gegenwart zu den Anfängen zurück, tritt eine Epoche vor Augen, in der Griechenland, genauer: eine einzige Stadt in Griechenland, nämlich Athen, eine kurze, aber glanzvolle Blütezeit erlebte. In gerade einmal 200, allenfalls 300 Jahren entstand damals auf einem Gebiet von der Größe des Stadtstaates Hamburg das meiste von dem, was wir mit einem ehrwürdigen, inzwischen leider aus der Mode gekommenen Begriff „klassisch“ nennen. Das kulturell anspruchsvolle Leben, das die Athener damals führten, hat die Vorstellung der „politischen“ Kultur von Anfang an eingeschlossen. Kultur hieß für sie Freiheit, Teilhabe und Selbstbestimmung, bis zum Exzeß sogar; sie waren von morgens bis abends damit beschäftigt, sich selbst zu regieren. Sie waren die ersten, die auf den Gedanken kamen, daß legitimer Machtgebrauch an die Zustimmung der Machtunterworfenen gebunden ist; alles andere war für sie Tyrannei. Und unter einem Tyrannen wollten die Athener nicht leben.

Das mußten sie dann allerdings schon bald. Die attische Demokratie verfiel fast ebenso schnell wie sie entstanden war. Sie wurde abgelöst durch fremde Herren wie die Makedonen, danach, für ziemlich lange Zeit, die Römer. Den Römern folgten die Byzantiner, den Byzantinern die Kreuzfahrer, den Kreuzfahrern die Venezianer, den Venezianern die Türken: lauter Despoten, die von den Griechen geduldet, aber nie geliebt worden sind. Erst mit den Freiheitskriegen, die den Griechen die Unabhängigkeit brachten, kam die Kette der Fremdherrschaften an ihr Ende. Die letzte, die türkische, war zugleich die längste und die härteste. Sie währte an die 500 Jahre und wurde deshalb als so drückend empfunden, weil die Türken eben nicht nur fremde, sondern auch andersgläubige Herren waren. Von ihnen fühlten sich die orthodoxen Griechen gleich zweimal unterjocht, als Christen und als freie Menschen.

Eine solche Geschichte hinterläßt Spuren. Sie hat die Griechen Europa und den Europäern ziemlich dauerhaft entfremdet. Zumal die Zeit, die sie unter dem Regiment eines anderssprachigen und andersgläubigen Volkes leben mußten, ihre Mentalität nachhaltig verändert haben dürfte. Unter dem Sultan erlebten die Griechen die Obrigkeit als eine ferne und fremde Macht, deren Zugriff man sich nach Möglichkeit entzog.

Ähnlich wie die Italiener im Mezzogiorno, dem verkommenen Süden der Halbinsel, gewöhnten sich die Griechen an einen Alltag ohne Staat, ohne Behörden, ohne Verwaltung und ohne öffentliche Ordnung. Was die Obrigkeit schuldig blieb, übernahmen Ersatz-Obrigkeiten wie Mafia oder Camorra: Familien und Clans also, die eifersüchtig darüber wachten, daß ihre Privilegien von niemand bestritten oder angetastet wurden. So halten sie es bis heute. Sie wehren sich gegen die Zumutung, ihren einträglichen Schlendrian gegen die harten Auflagen einer Staatengemeinschaft einzutauschen, der sie sich leichtfertigerweise angeschlossen haben.

Die europäischen Einheitsfanatiker, die zusammenführen wollen, was nicht zusammengehört, scheinen von dieser Geschichte nichts zu wissen; ihre Abstraktionen und Konstruktionen sind frei von historischer Erinnerung und kultureller Erfahrung. Für sie gibt es keine Bürger, sondern nur Produzenten und Konsumenten: ein Riesenheer von Arbeitskräften, die nach Beschäftigung und Einkommen suchen und ganz zufrieden sind, wenn ihnen irgend jemand beides bietet. Daß der Mensch auch andere Wünsche hegt als den nach bezahlter Lohnarbeit, daß er nach Zuneigung, Beständigkeit, vertrautem und verläßlichem Umgang mit sich und seinesgleichen verlangen könnte, ist in ihrem auf Input und Output begrenzten Weltbild nicht vorgesehen.

Im „Wintermärchen“, dem Tagebuch seiner Reise durch das nachrevolutionäre Deutschland, amüsiert sich Heinrich Heine über die stumpfsinnigen Zöllner, die beim Grenzübertritt in Aachen seinen Koffer nach allerlei gefährlichen Gütern durchsuchten. Er höhnt: „Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht! / Hier werdet ihr nichts entdecken! / Die Contrebande, die mit mir reist, / die hab’ ich im Kopfe stecken.“

Er meinte die aufrührerischen Ideen, die er in Frankreich kennengelernt hatte. Auf einen ähnlich einleuchtenden Gedanken scheinen die Fachleute für Wirtschaft und Verwaltung, die in Brüssel das Sagen haben, nicht zu kommen. Sie behandeln Menschen wie Waren, wollen ihnen ihre kulturellen Flausen austreiben, sie normen, anpassen und etikettieren, mit einem Wort: sie ein für allemal auf ihre Arbeitskraft reduzieren. Die Folgen dieser instinktlosen Integrationspolitik lassen sich mittlerweile überall dort beobachten, wo der kulturelle Abstand zwischen den einen und den anderen, zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen, ins Auge springt. Den neuen Mitgliedern wird keine Zeit gelassen, sich in einem Europa, das sie bisher nicht kannten, das ihnen ungewohnt und fremd erscheint, zurechtzufinden.

Die Techniker der Macht drängen aufs Tempo, für sie kann es mit dem Einigungsprozeß gar nicht schnell genug vorangehen. Die Spannungen und Verwerfungen, Enttäuschungen und Verluste, die dabei zwangsläufig auftreten, betrachten sie als den Preis, den sie, die progressive Elite, einer zurückgebliebenen, fortschrittsfeindlichen Bevölkerung abfordern dürfen, ja müssen: die gute Sache will es so.

Für das Volk, das zu vertreten sie vorgeben, haben diese Leute kein Verständnis. Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, hat das geradezu mustergültig vorgeführt, als er auf die Unruhe, die der ungeordnete und unerwünschte Zuzug von Flüchtlingen aus Südosteuropa bei den alteingesessenen Einwohnern mancher deutscher Städte hervorgerufen hatte, mit der bezeichnenden Wendung reagierte: dazu lägen ihm „keine Erkenntnisse“ vor. Wie sollten sie auch, da Schulz wie alle Angehörigen dieser Elite dort wohnt, wo sich Armutsflüchtlinge nicht blicken lassen dürfen und von der Polizei vertrieben werden, wenn sie es trotzdem tun!

Sollen wir diese Leute über Europas Zukunft entscheiden lassen? Ist der Schutz unserer bürgerlichen Rechte in ihren Händen gut aufgehoben? Liegt die von Martin Schulz verlangte Vollparlamentarisierung Europas nicht nur in seinem, sondern auch in unserem Interesse? Ich habe da meine Zweifel. Deswegen bin ich gegen einen Machtzuwachs der europäischen Zentralgewalten, der Legislative genauso wie der Exekutive oder der rechtsprechenden Gewalt. Ich bin dagegen, weil sämtliche Institutionen, vom Parlament über die Kommission, den Europäischen Rat, den Europäischen Gerichtshof bis hin zum Europäischen Rechnungshof, vertraglich dazu verpflichtet sind, den immer engeren Zusammenschluß der europäischen Staaten voranzutreiben. Was doch nichts anderes heißt, als daß sie allesamt an einem Strick ziehen. Statt ihre Macht gegenseitig zu beschränken, spielen sie sich in die Hände. In Brüssel gibt es keine Teilung der Gewalten; es wird sie wohl auch niemals geben.

In Fragen der Verfassung waren unsere Ahnherren klüger als wir. Sie wußten, daß die Macht gefährlich ist. Und daß es nur ein Mittel gibt, den Machtmißbrauch zu steuern: indem man die Macht mit einer Gegenmacht konfrontiert. Deshalb erfanden sie den Grundsatz der Gewaltenteilung. Von diesem Grundsatz wollten die Konstrukteure des europäischen Verfassungsgebäudes nichts wissen; anstatt die Macht zu begrenzen, haben sie die Macht kumuliert und konzentriert.

Am Ende dieses Weges wird nicht ein Europa der Bürger stehen, sondern eine autoritäre Technokratie, die endlich das zu tun erlaubt, wovon Frau Merkel träumt, wenn sie vom Durchregieren spricht: eine schleichende Machtergreifung, ein kalter Putsch, der die Demokratie zwar nicht abschafft, aber leerlaufen läßt.

Gewiß, seit seinem Beitritt zur Union gehört Griechenland zu Europa. Aber um welchen Preis! Die Griechen haben mit nicht weniger als dem bezahlt, was sie vor langer Zeit erfunden hatten, mit der Demokratie. Im heutigen Athen herrscht nicht das Volk; es herrscht die Troika, ein Triumvirat, bestehend aus einem Vertreter des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und dem Chef der Euro-Gruppe: aus Männern, die ihr Mandat ich weiß nicht wem, doch ganz gewiß nicht dem Volk verdanken, schon gar nicht dem von Griechenland. Dennoch haben diese drei eine Regierung gestürzt, ein Parlament entmachtet und einem ganzen Volk das Wahlrecht entzogen. Was dort erprobt wurde, ist in Zypern wiederholt worden; auch dort haben die europäischen Machthaber hart zugegriffen, haben das Volk und seine Vertreter unter Vormundschaft gestellt und ihnen klargemacht, was es bedeutet, Mitglied der EU zu sein.

Wie kann und wird das weitergehen? Wann kommt das nächste Land an die Reihe? Noch haben wir das Spiel in der Hand, aber wie lange noch? Wenn der allmächtige Währungskommissar, der ganze Länderhaushalte pauschal genehmigt oder verwirft, in Brüssel erst einmal Fuß gefaßt hat, wird von dem vornehmsten Recht aller Parlamente, dem Haushaltsbewilligungsrecht, nicht mehr viel übrig sein; von unseren Bürgerrechten auch nicht.

Wem dieses Bild zu schwarz erscheint, den darf ich an die Worte erinnern, mit denen ein Muster-Europäer wie Jean-Claude Juncker beschrieben hat, wie in Europa heute schon regiert wird. Er sagte: Wir beschließen etwas und stellen es in den Raum. Dann warten wir einige Zeit lang ab; wenn es dann kein Geschrei und keine Aufstände gibt, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen worden ist, dann machen wir weiter, Schritt für Schritt, so lange, bis es kein Zurück mehr gibt.

Das war immerhin ehrlich. Aber wer kann, wer will in einem solchen Zwangsverband leben?

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Er ist einer von drei gleichberechtigten Sprechern (Vorsitzenden) der Alternative für Deutschland. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Bildungsreformen („Begabung als Behinderung“, JF 9/13).

Foto: Karyatiden am Erechtheion-Tempel auf der Akropolis in Athen: Wiege der europäischen Kultur

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