© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Schicksalhafte Flugnummer 007
Vor dreißig Jahren verschärfte der Abschuß eines südkoreanischen Jumbojets mit 269 Passagieren durch sowjetische Kampfflugzeuge die Spannungen zwischen den Supermächten
Wolfgang Kaufmann

In der Nacht vom 31. August zum 1. September 1983 verirrte sich eine südkoreanische Boeing 747 auf dem Flug von New York nach Seoul in den gesperrten sowjetischen Luftraum über Kamtschatka beziehungsweise der Insel Sachalin im ostsibirischen Ochotskischen Meer. Verantwortlich hierfür war nach Erkenntnissen der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO eine Fehlbedienung des Autopiloten, die zu einer Kursabweichung um fast 500 Kilometer führte. Die UdSSR-Luftraumüberwachung wiederum hielt den Jumbojet für ein amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ RC 135. Immerhin führten die Sowjets im fraglichen Gebiet gerade Tests mit ihrer neuen Interkontinentalrakete SS-25 durch. Ohnehin waren die Beziehungen zwischen den Supermächten nach der Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen Ende der siebziger Jahre, dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 und der Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten 1980 sehr gespannt.

Aus diesem Grund mobilisierte General Anatoli Kornukow, der Kommandeur des Luftwaffenstützpunktes Sokol auf Sachalin, mehrere Abfangjäger vom Typ Su-15 und MiG-23, die auch Warnschüsse abgaben, welche allerdings mangels Leuchtspurmunition in der Dunkelheit nicht wahrgenommen werden konnten. Damit bestand für die Besatzung der Linienmaschine mit der Flugnummer KAL 007 weiterhin keine Veranlassung, den fatalen Kurs zu korrigieren.

Deshalb feuerte der Su-15-Pilot Major Gennadi Ossipowitsch schließlich um 3.26 Uhr Ortszeit auf ausdrücklichen Befehl von Kornukow, der 1998 übrigens noch zum Oberkommandierenden der russischen Luftwaffe avancieren sollte, zwei Raketen auf die vollbeleuchtete Passagiermaschine ab, die seinen Aussagen nach das Heck trafen und den linken Flügel wegrissen. Damit schien das „Ziel“ vernichtet.

Vier Tage später gab US-Präsident Ronald Reagan den nunmehr offenbar feststehenden Tod der 269 Menschen aus 13 Ländern bekannt, welche sich an Bord der KAL 007 befunden hatten, darunter auch 22 Kinder. Dabei sprach er von einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Auch das Außenministerium in Bonn verurteilte umgehend diesen sowjetischen „Akt der Barbarei“. Weltweit sorgte dieser Abschuß für Entsetzen. Als Folge dieses „Jumbo-Abschlachtens“ (FAZ) prognostizierte die Stuttgarter Zeitung gar, daß nun „unversöhnlicher Russenhaß“ wieder aufflammen könne. Rabiater formulierte es die australische Daily Sun, die forderte, daß die „tollwürtige Bestie“ von „russischen Bären“ entweder „von innen her geheilt wird oder vernichtet werden muß, ehe sie räuberisch quer über den Globus wütet“.

Nachdem sich in der Woche nach dem Abschuß auch der UN-Sicherheitsrat mit dem Fall beschäftigte, räumte die sowjetische Nachrichtenagentur Tass diesen erstmals ein. Die Sowjets entschuldigten ihn aber damit, daß sie eine Spionagemission eines absichtlich in sowjetischen Luftraum eingedrungenen Flugzeugs abgewehrt hätten. Zudem sei der Jet unbeleuchtet geflogen und habe nicht auf Funkanrufe reagiert.

Allerdings tauchten in den Jahren danach Indizien auf, welche darauf hindeuten, daß dem Raketenbeschuß eine noch viel größere Infamie gefolgt sein könnte. Nachdem der russische Präsident Boris Jelzin auf permanenten Druck des Auslandes endlich am 8. Januar 1993 die Bänder der Flugdatenschreiber und des Cockpit-Stimmenrekorders sowie einige russische Geheimdokumente über die versuchte Vertuschung des Vorfalls an die ICAO übergeben hatte, erwies sich, daß Flugkapitän Chun Byung-In und sein Kopilot Son Dong-Hui die Maschine nach dem „Treffer“ noch zwölf Minuten in der Luft halten konnten, weil die Detonation in etwa fünfzig Meter Entfernung erfolgt war, wodurch nur zwei etwa 30 mal 30 Zentimeter große Löcher in den Rumpf der Boeing gerissen wurden. Das japanische Flugkontrollzentrum Tokio empfing immerhin aus dem Cockpit eine Meldung, daß man wegen Druckabfalls auf 3.000 Meter Höhe absinken müsse. Die übliche Mayday-Warnung wurde allerdings nicht abgesendet. Erst gegen 3.38 Uhr ging der Jumbojet 2,6 Kilometer nördlich der kleinen russischen Insel Moneron im Tatarensund südwestlich von Sachalin nieder.

Allerdings enden die Aufzeichnungen auf den Bändern bereits 104 Sekunden nach dem Abschuß von Ossipowitschs Raketen, wobei diverse Spuren auf eine absichtliche Manipulation, sprich Löschung, durch die Sowjets hindeuten. Jedenfalls erschien es nun als denkbar, daß der Ex-Luftwaffenoberst Chun, der immerhin 6.600 Flugstunden auf der Boeing 747 vorweisen konnte, die Maschine schwimmfähig aufgesetzt hatte – so wie der gefeierte Pilot Chesley Sullenberger 2009 seinen Airbus A 320 auf dem Hudson River in New York rettete.

Außerdem ist da auch noch das Mysterium der fehlenden Leichen einer so großen Anzahl von Opfern. Zwar wurden eine Woche später an der Nordküste der in der Nähe der vermeintlichen Absturzstelle gelegenen japanischen Insel Hokkaido wenige Leichenteile und einige kleinere Objekte aus dem Flugzeug angeschwemmt. Allerdings fanden sich darunter keine Teile eines havarierten Großflugzeuges.

Anfang 1991 veröffentlichte die russische Tageszeitung Iswestija Interviews mit den Tiefseetauchern Matwejenko, Kondrabajew und „K.“, welche das in 174 Meter Tiefe liegende Wrack kurz nach dem „Aufprall“ insgesamt 150 Stunden lang inspizierten. Die drei gaben einhellig zu Protokoll, daß sie in dem überraschend gut erhaltenen Flugzeug weder Gepäck noch menschliche Überreste gefunden hätten – abgesehen von einem männlichen Torso und einer abgerissenen Hand.

Dazu passen dann wiederum die seltsamen Enthüllungen des Mossad-Angehörigen Avraham Shifrin, der 1990 mit der Information an die Öffentlichkeit trat, von seinen Gewährsleuten in der Sowjetunion seien Überlebende des Abschusses, darunter auch der stramm antikommunistische US-Kongreßabgeordnete Lawrence McDonald, in geheimen Speziallagern für Ausländer gesichtet worden.

Foto: Aus Protest gegen den Abschuß der KAL-Maschine verbrennen Koreaner am 5. September 1983 in Seoul die sowjetische Flagge und eine Figur des sowjetischen Staats- und Parteichefs Juri Andropow: Einige Fragen sind bis heute nicht beantwortet worden

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