© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/13 / 06. September 2013

„Die USA als Verbündete al-Qaidas“
Zunächst schien der Luftschlag gegen Syrien unmittelbar bevorzustehen. Nun zögert Obama. Warum? Welche Folgen wird der Angriff haben? Peter Scholl-Latour antwortet
Moritz Schwarz

Herr Professor Scholl-Latour, warum zögert Präsident Obama plötzlich mit dem Luftangriff auf Syrien?

Scholl-Latour: Er merkt, daß er mit dieser Haltung recht alleine steht. Die US-Bürger haben nach den Fehlschlägen im Irak und Afghanistan keine Lust auf neue militärische Abenteuer, und noch weniger die hohen US-Militärs.

Inwiefern?

Scholl-Latour: Die US-Generäle zeigen sich keineswegs als Falken. Der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, General Martin Dempsey, hat Obama wissen lassen, man könne sicherlich eine Flugverbotszone verhängen, die syrische Luftwaffe zerschlagen, Stellungen bombardieren, Commandoaktionen durchführen, aber das werde Milliarden Dollar kosten und niemand könne voraussagen, wie lange ein solches Engagement dauern und wie es ausgehen werde. Diesem Realismus kann man nur zustimmen.

Es kann aber doch nicht sein, daß Obama das erst jetzt klargeworden ist. Letzte Woche drückte er mit dem Angriff noch auf die Tube, nun will er erst den Kongreß fragen, der erst am Montag wieder zusammentritt.

Scholl-Latour: Was er als Oberkommandierender der Armee gar nicht müßte. Obama hat den Fehler gemacht, eine rote Linie zu ziehen. Jetzt ist er selbst an diese gebunden. Doch er muß feststellen, daß er nicht auf die erhoffte Resonanz stößt. Und nun ist ihm sogar die peinliche Panne passiert, daß sich die Engländer weigern mitzumachen.

Ist das wirklich relevant?

Scholl-Latour: Ungeheuer relevant!

Die britische Armee spielt doch gar keine Großmachtrolle mehr.

Scholl-Latour: Es geht nicht um die militärische Unterstützung. In der Tat ist die britische Armee klein und ihr Material nicht besonders gut. Sie verfügt jedoch mit dem „Special Air Service“ über wirklich fabelhafte Spezialeinheiten. Doch das ist nicht der Punkt. Es geht darum, daß den USA in dieser Krise mit den Engländern ihr traditionell engster Verbündeter abhanden gekommen ist. Das wirkt wie ein Schock. Zudem unterschätzt der Westen gerne die grimmige Entschlossenheit Wladimir Putins.

Außenminister John Kerry sagt, es sei sicher, daß die syrische Armee für den Giftgas-Angriff vom 21. August mit laut US-Bericht 1.429 Toten, darunter 426 Kinder, verantwortlich sei. Können wir dem glauben?

Scholl-Latour: Nein. Und die Amerikaner sind ja auch schon aufgefordert worden, konkrete Beweise vorzutragen. Das fand bisher nicht statt.

Kerry beruft sich auf Zeugenaussagen, Videomitschnitte, Meldungen in sozialen Netzwerken, abgehörte Kommunikation und Geheimdienstberichte, deren Quellen allerdings geheim bleiben müßten.

Scholl-Latour: Hätte er gesagt, „nach allen uns vorliegenden Informationen“, na gut. Aber dieses kategorische „Das wissen wir!“ reicht nicht aus, ebensowenig wie sein polternder Auftritt. Der John Kerry, den ich einmal als Präsidentschaftskandidaten gegen George W. Bush befürwortet habe, enttäuscht mich sehr.

Was für Motive sollten die USA haben, darauf zu drängen, daß Assad für den Gas-einsatz verantwortlich sei?

Scholl-Latour: Denken Sie an George W. Bush, der hat 2003 wirklich daran geglaubt, aus dem Irak einen „Leuchtturm der Demokratie“ machen zu können. Die jetzige Situation ist für Obama doppelt belastend. Er wollte doch den geopolitischen Schwerpunkt der USA in den Pazifik verlagern, wo sich tatsächlich der einzige wirkliche Rivale der USA – China – auf seine Stunde vorbereitet. Nun steckt Obama aber bis über die Ohren in diesem orientalischen Sumpf. Der Mann ist zu bedauern.

Das heißt, Sie glauben, daß Obamas Motive ehrlich sind, es ihm wirklich nur um das Verbrechen „Gas gegen Zivilisten“ geht?

Scholl-Latour: Im Gegensatz zu dem, was viele hierzulande glauben, ist Präsident Obama kein sonderlich tugendhafter oder weichherziger Mann. Es ist nicht so, daß ihn buchstäblich die menschliche Entrüstung getrieben hätte. Ich glaube eher, daß es bei der Verkündung seiner roten Linie um ein warnendes Signal ging: Giftgas ist tabu! Dahinter steht natürlich auch die Befürchtung, diese Waffen könnten einmal gegen die Nato und vor allem gegen Israel eingesetzt werden.

Auch wenn es keinen klaren Beweis gibt, könnte der Gasangriff doch auf Assads Konto gehen, der sich schon etlicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat.

Scholl-Latour: Der Kriegsverlauf wirkt sich zur Stunde zugunsten Assads aus. Die USA hatten erklärt, sie würden nicht eingreifen, solange kein Giftgas eingesetzt würde. Da müßte Assad doch verrückt sein, es dennoch einzusetzen und Obama geradezu zur Einmischung zu zwingen. Das ergibt keinen Sinn.

Könnte es sein, daß die Armee eigenmächtig, ohne Befehl Assads gehandelt hat?

Scholl-Latour: Das ist nicht ausgeschlossen. General Mehar al-Assad, der für seine Brutalität bekannte Bruder des Präsidenten, könnte den Angriff auf eigene Faust befohlen haben. Baschar al-Assad verfügt eben nicht über die Allmacht seines Vaters Hafiz al-Assad.

Oder waren es die Rebellen? Ist es ihnen zuzutrauen, Zivilisten zu vergasen, um die USA in den Konflikt zu verwickeln?

Scholl-Latour: Das ist vorstellbar. Die terroristische Al-Nusra-Front schickt ihre eigenen Kinder mit Selbstmordsprengsätzen los und verspricht ihnen das Paradies. Denen ist alles zuzutrauen.

Sollte es so gewesen sein, wären die USA in eine Falle geraten.

Scholl-Latour: Deshalb kann ich nicht verstehen, daß Obama keine gründliche Untersuchung vorgenommen hat und so schnell vorgeprescht ist.

Allerdings hat er nur einen begrenzten Militärschlag angekündigt. Was wird ein solcher Angriff bewirken?

Scholl-Latour: Die USA sind über Syrien relativ schlecht informiert. Dieses Land war stets ein Hort der Geheimnisse, und was weiß man schon von der Al-Nusra-Front? Vielleicht werden die US Air Force und US Navy ein paar Kommandozentralen, Lenkwaffenstellungen, Flugplätze der syrischen Luftwaffe zerstören und dabei versuchen, die Kollateralschäden möglichst niedrig zu halten.

Was würde das bezüglich des Bürgerkrieges bewirken?

Scholl-Latour: Nichts.

Nichts? Das heißt, die ganze Welt diskutiert über einen Einsatz, der militärisch überhaupt keine Bedeutung hat?

Scholl-Latour: Diese selektiven Schläge würden, falls sie wie angekündigt ausgeführt werden, keine strategische Veränderung bewirken, dazu sind sie zu begrenzt. Vor allem sind die Syrer gewarnt. Sie haben ausreichend Zeit, sich einzubunkern beziehungsweise ihre wirklich empfindlichen Einrichtungen zu verlagern. Es könnte sogar sein, daß die USA sich mit ihrem zögerlichen Verhalten bei ihren Verbündeten lächerlich machen.

Was passiert in Syrien, sollte Assad stürzen?

Scholl-Latour: Das ist die entscheidende Frage: Wer kommt nach Assad an die Macht? Sehr wahrscheinlich nicht die relativ braven Leute der Freien Syrischen Armee oder irgendwelche Demokraten, wie der Westen sich das wünscht. Erst recht nicht jene syrische Exilregierung, die überhaupt keinen Einfluß auf die Kämpfenden ausübt. Auch die sunnitischen Dorfmilizen werden nicht viel erbringen, denn sie haben inzwischen mehr Angst vor den Fanatikern der Nusra-Front als vor der Armee Assads.

Warum?

Scholl-Latour: Weil deren Kämpfer und Prediger die Scharia in ihrer ganzen Härte anwenden wollen. Den Verdächtigen schlagen sie die Köpfe ab, und sie steinigen emanzipierte Frauen.

Wer ist die Al-Nusra-Front?

Scholl-Latour: Die Dschibhat al-Nusra, zu deutsch „Front des Beistands“, die im Irak, in Afghanistan und im Kaukasus kriegerische Erfahrung sammeln konnte, ist der Teil der Opposition, der Assad wirklich gefährlich werden kann. Es handelt sich um todesmutige Kämpfer, aber sie werden von erheblichen Teilen auch der sunnitischen Bevölkerung gefürchtet, ja verabscheut. Es sind Salafisten, die sich mit al-Qaida verbündet haben.

Der amerikanische Politiker Ron Paul warnt, die US-Luftwaffe werde im Fall eines Luftschlages zur „Luftwaffe al-Qaidas“.

Scholl-Latour: Da hat er nicht ganz unrecht. De facto sind die USA im Verbund mit den Waffenlieferanten aus Saudi-Arabien und den Golf-Emiraten zu Förderern der al-Qaida Syriens und des Irak geworden.

Droht im Falle eines Sturzes Assads also aus Syrien ein zweiter Irak zu werden?

Scholl-Latour: Ich fürchte viel Schlimmeres. Im Nordosten Syriens leben zwei bis drei Millionen Kurden, die radikaler sind als die Kurden des Nordirak. Diese Kurden sind bereits in heftige Kämpfe mit den arabischen Extremisten verwickelt. Die Kurdenfrage, die nicht nur den Irak und Syrien, sondern auch Iran und vor allem die Türkei betrifft, dürfte demnächst wieder aufflackern. Die Kurden Syriens würden nach Kräften mit den Kurden des Nordirak, die de facto schon einen eigenen Staat haben, zusammenarbeiten und eine politische Autonomie anstreben und damit auch den 15 Millionen Kurden der Türkei neuen Auftrieb geben. Der Flächenbrand breitet sich also aus, der Syrien-Krieg hat längst die Grenzen übersprungen und inzwischen wird im Libanon ebenso bitter gekämpft wie im Irak. Ich habe mich in Bagdad weit mehr bedroht gefühlt als etwa in Kabul. Zwar sind siebzig Prozent der Araber des Irak Schiiten, aber die Terroranschläge dort gehen überwiegend von den Sunniten aus. Und inzwischen hat sich die al-Qaida Syriens offiziell mit der al-Qaida Mesopotamiens, also des Irak, zusammengeschlossen. Da entsteht also eine durchgehend sunnitische Landmasse – vom Norden Libanons über Syrien bis an die Grenzen des Iran. Eines Tages wird zudem den Schiiten im Irak der Kragen platzen und sie werden zu den Waffen greifen. Sie verfügen bereits über Kampfverbände und todesbereite Milizen.

Also wäre die Fortsetzung der Herrschaft Assads, trotz dessen schwerer Menschenrechtsverletzungen, eigentlich sowohl im Interesse des Westens als auch im Interesse einer Minimal-Stabilität der Region?

Scholl-Latour: Im Grunde ja. Ein Beispiel: Die Syrer haben auf den Golan-Höhen einen unmittelbaren Berührungspunkt mit den Israeli. Dort hat es seit dem Yom-Kippur-Krieg, also seit vierzig Jahren, keinen einzigen Zwischenfall gegeben. Wenn aber die al-Qadia sich dort installiert, wird die Situation für Israel weit prekärer. Offenbar bedenkt man im Westen nicht, daß bei einem Sieg der Al-Qaida-Elemente die Alawiten – also die Volksgruppe, der Assad angehört und die etwa zwölf Prozent der gut zwanzig Millionen Syrer ausmacht – nicht nur vertrieben, sondern umgebracht werden. Das wird bereits offen angekündigt! Es wird ein schreckliches Massaker geben.

Experten warnen, der Sturz Assads würde auch das Ende der zweitausendjährigen Christenheit in Syrien bedeuten.

Scholl-Latour: Das droht keineswegs nur in Syrien, sondern vollzieht sich auch im Irak. Die Hälfte der dortigen Christen ist bereits geflohen. Die verbliebenen Überlebenden befürchten das Schlimmste. Ständig werden Christen ermordet, während das christliche Abendland desinteressiert wegschaut. Der Skandal schreit zum Himmel.

Der Zerfall Syriens bedeutet also die Vertreibung der Christen, einen Sieg für al-Qaida und Auftrieb für die Kurden. Und ausgerechnet die USA und die Türkei, neben Frankreich, unterstützen den Kampf gegen Assad. Können Sie uns diesen Widerspruch erklären?

Scholl-Latour: Das ist wirklich unerträglich. Aber der Zerfall Syriens erscheint beinahe programmiert.

Wie lange wird der Syrien-Krieg dauern?

Scholl-Latour: Das kann niemand sagen. Der Bürgerkrieg im Libanon hat bekanntlich 15 Jahre gedauert und Baschar al-Assad ist bei seinen Landsleuten nicht so total verhaßt, wie man im Westen behauptet. Nicht nur bei Alawiten, Christen und Drusen, auch bei vielen gemäßigten Sunniten wird er angesichts des drohenden konfessionellen Gemetzels als das geringere Übel empfunden.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour, „Den letzten großen Welterklärer“ hat ihn der Spiegel genannt: Peter Scholl-Latour, dieser „Weltreisende auf seinem fliegenden Teppich und deutsche David Livingstone“ (Günther Deschner), hat 2012 bei Propyläen sein mittlerweile 35. Buch vorgelegt: „Die Welt aus den Fugen. Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart “. „Schlicht brillant“ nennt es ARD-Literaturkritiker Denis Scheck und die Süddeutsche Zeitung lobt: „Gewohnt staatsmännisch nimmt Scholl-Latour den Leser an die Hand und zeigt ihm die Welt.“ Geboren 1924 in Bochum, ist Peter Scholl-Latour seit 1950 als Journalist tätig. Er war unter anderem Direktor des Westdeutschen Rundfunks, Chefkorrespondent des ZDF, Herausgeber des Stern und Vorstandsmitglied bei Gruner + Jahr. Er ist Träger des Gerhard-Löwenthal-Preises für Publizistik und schreibt – schon über zwanzig Jahre freier Autor – seit 2003 auch für die JUNGE FREIHEIT. Zuletzt in JF 27/13 den Beitrag „Der Flächenbrand hat begonnen“.

Foto. US-Kriegsschiff startet Marschflugkörper, wie sie auch gegen Syrien zum Einsatz kommen sollen: „Obama hat den Fehler gemacht, eine rote Linie zu ziehen. Nun ist er selbst an sie gebunden“

 

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