© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Millionen auf der Flucht
Syrien: Gerade auch die US-Drohung mit Vergeltungsschlägen hat die Lage verschärft
Marc Zöllner

Hana besaß alles, wozu zu leben sich lohnt: eine kleine Familie, ein Häuschen in Homs, eine gut bezahlte Arbeit. Doch als Anfang 2011, mit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs, ihr Mann von Unbekannten verschleppt und ermordet wurde, brach für die junge Frau eine Welt zusammen. „Wenn ich über meine Situation nachdenke, könnte mein Kopf explodieren“, erzählt die Mittdreißigerin einer Gruppe französischer Journalisten. Über sieben Monate lebe sie bereits zusammen mit ihrem Sohn in einem kleinen Hotel im Herzen der Hauptstadt Damaskus.

Es sei bereits die dritte Unterkunft auf einer Flucht vor dem Krieg, dessen Ende nicht abzusehen ist. Und die Lage verschlimmert sich täglich – vor allem nach der Ankündigung eine US-Militärschlags ist die Situation noch angespannter. „Früher zahlten wir hier 25.000 syrische Pfund pro Monat“, umgerechnet etwa 80 Euro, berichtet Abu Amar, ein weiterer Langzeitgast. „Aber da die Kosten steigen, fordert der Hotelier von uns nun 30.000 Pfund.“ Drei Monatsmieten schuldet Hana, deren einziges Einkommen die Aushilfstätigkeit ihres Sohnes in den umliegenden Schischa-Kneipen ist, bereits dem Management.

So wie Hana und ihre Familie strömen seit letztem Jahr immer mehr Flüchtlinge aus den umkämpften Städten des Landes in die scheinbar noch sichere Hauptstadt. Damaskus platzt förmlich aus allen Nähten. „Normalerweise hat die Hauptstadt vier Millionen Einwohner“, erklärt ein Mitarbeiter des Roten Halbmonds dem ARD-Weltspiegel. „Doch Damaskus hat sich aufgebläht auf sechs, sechseinhalb Millionen Menschen. Das sind die Flüchtlinge aus anderen Städten, in denen es noch schlimmer ist als hier.“

Von den knapp 21 Millionen Einwohnern Syriens befinden sich mittlerweile über sieben Millionen auf der Flucht. Jeder dritte mußte seine Heimat verlassen. Fünf Millionen Syrer zog es in von der Regierung kontrollierte Großstädte wie Damaskus, Hama und Aleppo. Auch die kurdischen Gebiete im Nordosten des Landes empfangen täglich mehr Unterschlupfsuchende. Doch immer mehr Syrer, deren Land bis vor kurzem noch als Refugium für über eine halbe Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Irak galt, wähnen nun selbst ihr Heil im Exil in einem der Nachbarländer.

Allein im Irak zählt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, UNHCR, bereits zweihunderttausend Syrer. Eine halbe Million sollen je in Jordanien und in der Türkei angekommen sein. Größter Lastenträger des Dramas ist jedoch der Libanon. Seit dem Giftgasangriff vom 21. August dieses Jahres berichten Grenzkontrollen von täglich rund zehntausend syrischen Asylsuchenden. Über 700.000 Flüchtlinge wurden bereits offiziell in jenem kleinen Land am Mittelmeer registriert, das selbst nur vier Millionen Einwohner hat.

Mit den sieben Millionen Heimatvertriebenen stellt sich nicht nur den Regierungen des Nahen Ostens, sondern auch der Welt die Kostenfrage. Auf über zweieinhalb Milliarden Euro kalkuliert das UNHCR seinen fiskalen Bedarf allein bis Jahresende, um die Flüchtlinge inner- und außerhalb Syriens mit Decken, Nahrung und medizinischen Gütern versorgen zu können. Lediglich 40 Prozent dieser Summe seien bislang durch Finanzhilfen aus dem Ausland gedeckt.

„Doch wir reden nicht mehr nur von der humanitären Situation, welche fast schon einer Katastrophe gleicht“, warnt der UN-Gesandte für Syrien, Mokhtar Lamani. „Aufgrund der konfessionellen Spaltung des Landes [...] besteht überdies das Risiko eines Völkermords.“

Tatsächlich gelang es der Terrororganisation al-Qaida nahestehenden Rebellen der Jabhat al-Nusra-Bewegung erst Anfang dieser Woche, die christlich dominierte Ortschaft Maaloula nahe Damaskus einzunehmen. In Maaloula befinden sich zwei der ältesten noch betriebenen Klöster Syriens. Noch während der Gefechte berichteten Anwohner von Kirchenplünderungen, Zwangsbekehrungen sowie der Erschießung von Zivilisten. Der Ort selbst gleicht nach der Flucht von Hunderten ihrer Bürger einer Geisterstadt. Wohin es die Flüchtenden verschlagen wird, bleibt unklar.

Foto: Syrische Flüchtlinge an der Grenze zum Irak: Trotz der prekären Lage im Nachbarland die einzige Rettung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen