© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Pankraz,
La Rochefoucauld und der Aphorismus

Jedermann klagt über sein Gedächtnis, niemand über seinen Verstand. – Der Wunsch, klug und tüchtig zu erscheinen, hindert uns oft, es zu werden. – Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: alle Welt redet davon, aber nur wenige haben sie gesehen. – Wir sind immer stark genug, fremdes Leid zu ertragen. – Wir verzeihen oft denen, die uns langweilen, aber nie verzeihen wir denen, die wir langweilen.

Das sind so einige Aphorismen La Rochefoucaulds, der vor 400 Jahren, am 15. September 1613, in Paris geboren wurde. Wo man auch hineingreift in seine „Maximen und Reflexionen“ – man wird immer sofort fündig, amüsiert sich, fühlt sich belehrt, möchte bei jeder Zeile bravo rufen. Pankraz liebt ihn geradezu, stellt ihn weit über die übrigen französischen Moralisten, La Bruyère, Vauvenargues, Rivarol, Chamfort. Auch Spätere, etwa Lichtenberg, Oscar Wilde oder Nicolás Gómez Dávila, reichten nicht an ihn heran, einzig Nietzsche konnte ihm das Wasser reichen.

La Rochefoucauld war sich von Anfang an völlig darüber im klaren, daß der Mensch, jeder Mensch, von Natur her ein fast tragisches Mängelwesen ist und deshalb auch ein Maskenwesen, das ständig etwas kompensieren und sich und anderen etwas vormachen will. So kam es also für Menschenbeobachter und Versprachlicher darauf an, Verborgenes freizulegen, zu entlarven, zu demaskieren, sowohl im Interesse des Beobachteten als auch im Interesse des Beobachters und Versprachlichers selbst.

Wer demaskieren will, dessen Sprache muß sich ihrerseits maskieren – das war das Paradoxon, das La Rochefaucauld wohl als erster durchschaute. Noch bei Montaigne, seinem erlauchten Vorgänger, waltete ein fast pausbäckiges Gottvertrauen in die Gewalt unmaskierter, ungebrochener Rede. Die Sprache, so Montaigne, sei „ein geselliges Wesen“, man müsse ihr immer voll vertrauen, dürfe keine Distanz zu ihr wahren, denn solche Distanz sei Lüge. „Lieber grob und unbescheiden sein als sich maskieren“, lautete Montaignes Devise. Da war La Rochefoucauld gänzlich anderer Meinung.

Sprache war für ihn zwar notwendiges Verständigungsmittel, aber nichts weniger als „gesellig“. Sie war eine „Leidenschaft“, und zwar eine ganz große, die menschliche Ur-Leidenschaft, welche den anspruchsvoll Sprechenden von den Zuhörern trennt und ihn in die Einsamkeit treibt. „Trennung“, so die leidenschaftliche Überzeugung La Rochefoucaulds, „vermindert zwar schwache Leidenschaften, aber steigert die großen, gerade wie der Wind eine Kerze auslöscht, aber den Brand anfacht.“

Große Dichter wie Homer oder Dante waren für La Rochefoucauld keine Kerzenhalter, sondern Brandstifter. Vielleicht wäre aus ihm ein zweiter Homer oder Dante geworden, wenn er nicht von Geburt aus einer der größten Machthaber und Würdenträger des damaligen alten Frankreichs gewesen wäre, François VI., duc de La Rochefoucauld, prince de Marcillac, ein Führer der auf Tradition und Regionalität beharrenden „Fronde“, der sein Leben lang im Krieg lag mit dem immer absolutistischer, zentralistischer und autoritärer auftretenden Barock-Regime im Paris des siebzehnten Jahrhunderts.

Sowohl seine beiden Könige, Ludwig XIII. wie Ludwig XIV., als auch ihre Kanzler, Richelieu wie Mazarin, mißtrauten und bekämpften La Rochefoucauld, wo immer es ging, verbannten ihn auf seine Güter, überzogen ihn kurzzeitig sogar mit Festungshaft in der Bastille. Aber der Herzog wehrte sich unermüdlich mit vielen witzigen Tricks und Gegenzügen, bis ihn der Tod im Bett 1680 außer Gefecht setzte. „An seinen Vorfahren kann man nichts ändern“, geht einer seiner bekanntesten Aphorismen, „aber man kann mitbestimmen, was aus den Nachkommen wird.“ Und La Rochefoucauld wollte mitbestimmen.

Für die Abfassung von Epen oder Lehrgedichten fehlte dem Herzog einfach die Zeit. So beriet er zwar, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, seine schriftstellernde Freundin und politische Verbündete, die legendäre Madame de La Fayette, bei der Abfassung ihrer historischen Romane. Für sich selbst jedoch wählte er als Brandsatz den Aphorismus, jene Kunstform, deren Name ja schon an ihrem Ursprung nichts anderes als „Abgrenzung“, „Distinktion“ bedeutet und über die zum Beispiel kein Geringerer als Robert Musil die ingeniöse Definition gefunden hat: „Der Aphorismus ist das kleinste mögliche Ganze.“

Unempfindlichere Archiv-würmer und Sprachpfleger aus der positivistischen Ära des neunzehnten Jahrhunderts definierten den Aphorismus gern äußerst herablassend als „mindere Literaturform“, als „bloßen Gedankensplitter“, Sentenz, Aperçu, Bonmot. Aber je weiter sich das Zeitalter des medialen Übergeschwätzes ausbreitet, um so mehr Ansehen bei den Nachdenklichen gewinnt offenbar der Aphorismus. „Der Aphorismus ist das Amen der Erfahrung“, heißt es nun (Hans Kudszus), „im Aphorismus ist der Gedanke nicht zu Hause, sondern auf dem Sprung“ (Helmut Arntzen).

Das Blatt scheint sich zu wenden, vielleicht schlägt das Pendel demnächst ins andere Extrem aus. In Hattingen im Ruhrgebiet soll es schon ein alljährliches, von der Stadt finanziell unterstütztes „Internationales Aphoristikertreffen“ geben, veranstaltet von einem Förderverein Deutsches Aphorismus-Archiv (DAphA). Das eröffnet eher ungemütliche, ja alptraumhafte Perspektiven. Man stelle sich vor: ein geballter Massenauftritt von Leuten, die sich alle für geborene Aphoristiker halten und sich gegenseitig ihre Gedankensplitter, Bonmots und Aperçus um die Ohren schlagen!

Das wäre dann genau das, was La Rochefoucauld so sehr fürchtete: Der Aphorismus als Motor für „geselligen“ Sprachaustausch à la Montaigne, unmaskiert, distanzlos, im Niveau noch unter dem Wust jener Ratgeber, die die Bestsellerliste verstopfen. La Rochefoucaulds einschlägiger Trenn-Aphorismus dazu lautet: „Man wirkt nie so lächerlich durch Eigenschaften, die man besitzt, wie durch solche, die man sich beilegt.“

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