© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Selbstbestimmungsrecht der Bundesrepublik Deutschland
Eigentlich sind wir souverän
Björn Schumacher

Enthüllungen des früheren US-Geheimdienstagenten Edward Snowden haben heftige Debatten zur deutschen Souveränität ausgelöst. Tatsächliche oder angemaßte alliierte Sonderrechte in Deutschland sind jedoch schon früher beschrieben worden, so von dem Juristen Michael Rensmann. 2002 verwies er etwas spekulativ auf „noch gültiges Besatzungsrecht“, das es den USA leichtmache, deutsche Staatsbürger ins Ausland zu entführen oder gar Geheimgefängnisse auf deutschem Boden zu errichten. Das Bundesverfassungsgericht habe daher 1996 gefordert, „den Restbestand des Besatzungsrechts zu tilgen“.

Im Brennpunkt des Interesses stand allerdings die Telefonspionage. Ausweichend antwortete die rot-grüne Bundesregierung am 17. April 2000 (BT-Drucksache 14/3224) auf eine Anfrage der FDP-Fraktion zum Abhörsystem „Echelon“: Der Satellitenbetrieb erfolge auf der Grundlage des Nato-Truppenstatuts. Die USA hätten versichert, daß von „Echelon“ keine Aktivitäten gegen deutsche Interessen ausgingen.

Konkretere Erkenntnisse lieferte 2012 der Historiker Josef Foschepoth. Er deckte auf, daß Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst zusammen mit den westlichen Verbündeten das bundesdeutsche Post- und Fernmeldewesen ausgespäht hätten. Artikel 10 Grundgesetz (GG) sei massiv mißachtet worden. Als Grundlage habe ein das Besatzungsrecht ablösender, in Geheimabsprachen zum Deutschlandvertrag von 1955 festgeschriebener „Überwachungsvorbehalt“ gegolten. Dieser sei 1968/69 nach Inkrafttreten des sogenannten G 10, des umstrittenen Gesetzes zu Artikel 10 GG, durch „Verwaltungsvereinbarungen“ bekräftigt worden.

Auf Anfragen des ZDF-Magazins „Frontal 21“ zur Foschepoth-Studie reagierte nur das Bundesministerium des Innern − noch dazu wachsweich: „Aufgrund der Komplexität der Sach- und Rechtslage ist derzeit keine abschließende Antwort möglich.“ Verblüffende Pressemitteilungen gab das Auswärtige Amt am 6. und 9. August 2013 heraus: Die Verwaltungsvereinbarungen zum G-10-Gesetz mit den USA, Großbritannien und Frankreich seien „im gemeinsamen Einvernehmen aufgehoben“.

Noch überraschender kam Mitte August 2013 die Ankündigung eines „No-Spy“-Abkommens zwischen Deutschland und den USA − für FAZ-Redakteur Reinhard Müller ein juristischer Gezeitenwechsel; „denn Spionage ist völkerrechtlich nicht verboten“. Er zitiert einen Nestor der modernen Völkerrechtslehre, Karl Doehring: „Ein Staat, der nicht Spionage betreibt, läßt unter Umständen die Fürsorgepflicht für seine Staatsbürger, sein Staatsvolk, außer acht.“

Am meisten erstaunt jedoch, daß die aktuelle Souveränitätsdebatte den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 nahezu ausklammert. Nach Artikel 7 Absatz 1 dieses „Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ beenden Frankreich, die Sowjetunion, das Vereinigte Königreich und die USA ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Artikel 7 Absatz 2 lautet: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“

Unauflösbar verbunden mit der Souveränitäts- ist die Grenzfrage. Nach Art. 1 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag umfaßt der deutsche Nationalstaat das Territorium der (bisherigen) Bundesrepublik Deutschland, der DDR und ganz Berlins. Art. 1 Abs. 3 lautet: „Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch nicht in Zukunft erheben.“

Man sollte meinen, diese klaren Aussagen würden Zweifel am völkerrechtlichen Status Deutschlands ein für allemal zerstreuen. Dem ist aber nicht so. Skeptiker tragen vor allem fünf Argumente gegen die Souveränitätsbehauptung vor:

l Erstens sei der Zwei-plus-Vier-Vertrag kein Friedensvertrag gemäß dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945. Die Grenz- wie auch die Souveränitätsfrage seien daher noch offen. Dieser Einwand beruht auf dem nachvollziehbaren Wunsch, Grenzverschiebungen zu Lasten Deutschlands nicht hinzunehmen. Juristisch überzeugt er nicht. Zum einen zählt auch im Völkerrecht nicht die Überschrift, sondern der durch Auslegung zu ermittelnde Inhalt eines Vertrags. Zum anderen sind die alliierten Mächte souveräne Staaten, die jederzeit einvernehmlich von den − im rechtlichen Status umstrittenen − Potsdamer Beschlüssen Harry S. Trumans, Winston Churchills (beziehungsweise Clement Attlees) und Josef Stalins abweichen durften.

Spätestens seit den Ostverträgen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen sowie der Sowjetunion im Jahre 1970 wollte ohnehin kein Staat einen Friedensvertrag, der zu deutscher Territorialhoheit östlich von Oder und Neiße geführt hätte. So sehr der Verlust dieser Reichsgebiete auch schmerzt; die Potsdamer Beschlüsse hatten hier längst eine „normative Kraft des Faktischen“ entwickelt. Im übrigen verbietet der Zwei-plus-Vier-Vertrag nur Gebiets­ansprüche gegen andere Staaten. Freiwillige Grenzänderungen oder Zusammenschlüsse von Staaten schließt das internationale Recht keineswegs aus. Alles in allem lag der Verzicht auf einen förmlichen, umfassenden Friedensvertrag im deutschen Interesse, weil ansonsten sofortige Reparationsforderungen von Drittstaaten gedroht hätten.

l Der zweite Einwand gegen die These von der vollen Souveränität rankt sich um den Überleitungsvertrag vom 26. Mai 1952 („Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen“) zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten. Der immer noch geltende Art. 2 Abs. 1 Satz 1 des Vertrags sieht vor, daß hoheitliche Maßnahmen der Besatzungsbehörden „in jeder Hinsicht nach deutschem Recht in Kraft“ bleiben.

Dieser Einwand ignoriert jedoch, daß es hier um einen Überleitungsvertrag geht, dessen Ziel nicht darin lag, westalliiertes Besatzungsrecht auf Dauer festzuschreiben. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 sollte nur verhindern, daß Besatzungsrecht durch die Wiederherstellung deutscher Souveränität automatisch ungültig wird. Westalliierte Gesetze galten also zunächst als Bundesrecht fort, konnten beziehungsweise können aber jederzeit – wie alle anderen Rechtsnormen des Bundes − vom deutschen Gesetzgeber aufgehoben oder geändert werden.

Auch der ebenso fortgeltende Art. 7 Abs. 1 Überleitungsvertrag zur uneingeschränkten Rechtskraft alliierter Strafurteile kratzt nicht an Deutschlands Souveränität. Die Rechtskraft umfaßt stets nur Tenor und tragende Gründe einer Gerichtsentscheidung, nicht aber beiläufige Bemerkungen („obiter dicta“). Abschweifende Phrasen alliierter Urteile zu deutscher Kollektivschuld oder „preußischem Militarismus“ sind nie in Rechtskraft erwachsen und binden deutsche Gerichte und Behörden daher nicht. Jubelchöre auf alliierte „Befreier“ in Lehrplänen der Kultusbürokratie sind keine rechtliche Folge solcher Strafurteile.

l Der dritte Einwand verweist auf Kompetenzbeschränkungen aufgrund des Zwei-plus-Vier-Abkommens, des Atomwaffensperrvertrags, des Nato-Truppenstatuts und der EU-Verträge. Zum einen geht es um den Nichtbesitz von ABC-Waffen, die maximale Truppenstärke der Bundeswehr sowie die Stationierung fremder Truppen und Kernwaffen, zum anderen um die Verlagerung von Befugnissen auf die Europäische Union. Der freiwillige Verzicht auf einzelne mit der Souveränität verknüpfte Kompetenzen liegt allerdings in der Natur eines auf Geben und Nehmen basierenden völkerrechtlichen Vertrags. Er ändert nichts an der grundsätzlichen Souveränität Deutschlands, solange „Kompetenz-Kompetenz“ und „Verfassungsidentität“ im Sinne des Art. 20 Abs. 1 GG gewahrt bleiben (Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsge-richts vom 30. September 2009) und vereinbarte Kompetenzbeschränkungen eng ausgelegt werden.

l Viertens werden gegen die These von der deutschen Souveränität die bereits erwähnten Geheimabsprachen von 1955 respektive 1968/69 mit den USA, Großbritannien und Frankreich ins Feld geführt. Offenbar gingen die Vertragsparteien von deren rechtlicher Verbindlichkeit aus; anderenfalls hätten sie diese „Verwaltungsvereinbarungen“ nicht aufzuheben brauchen.

Übersehen hat man wohl den völkerrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Nach Art. 102 Abs. 1 UN-Charta registrieren die Vereinten Nationen alle Abkommen ihrer Mitgliedstaaten; Geheimabsprachen werden vom Internationalen Gerichtshof nicht als geltendes Völkerrecht behandelt. Hinzu kommt, daß „Verwaltungsvereinbarungen“ im Lichte der höherrangigen Souveränitätsklausel des Zwei-plus-Vier-Vertrags auszulegen und gegebenenfalls als ungültig zu verwerfen sind.

l Der fünfte Vorbehalt stützt sich auf die Feindstaatenklausel der Vereinten Nationen vom Frühjahr 1945, siehe Art. 53, 77 und 107 UN-Charta. Sie erlaubt den Unterzeichnerstaaten ohne Anhörung des Sicherheitsrats Zwangsmaßnahmen gegen Japan und das Deutsche Reich, wenn diese „erneut eine aggressive Politik“ verfolgten. Das könnte in der Tat auf eine beschränkte Souveränität der Bundesrepublik Deutschland (als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs) hindeuten. Sollten nämlich andere Mächte die Bundesrepublik angreifen dürfen, dann würde diesem Recht zwangsläufig eine Duldungspflicht Deutschlands gegenüberstehen. Anders ausgedrückt: Deutschland hätte keine völkerrechtliche Legitimation, sich gegen den Angriff zu verteidigen – ein gravierendes Souveränitätsdefizit.

Allerdings stößt die Feindstaatenklausel auf massive juristische Bedenken. Bereits nach der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags Ende 1969 gaben die Westmächte zu Protokoll, daß die Klausel keine Gewaltmaßnahmen rechtfertigen würde. Mehr noch, 1995 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 50/52 zu Charta-Fragen, in der die Feindstaatenklausel ohne Wenn und Aber für ungültig (obsolet) erklärt wurde. Daß sie 2013 immer noch in der Charta steht, ändert nichts an ihrer Unverbindlichkeit und nährt höchstens Zweifel an der Geradlinigkeit von UN-Rechtsetzungsverfahren.

Fast alles spricht dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland volle Souveränität im Sinne des Völkerrechts besitzt. Andersartige Wahrnehmungen beruhen auf deutschen Schuldkomplexen und daraus resultierender Nachgiebigkeit auf dem internationalen Parkett. Völkerrechtliche und „politische“ Souveränität sind noch nicht deckungsgleich. Ändern wird sich das erst, wenn deutsche Regierungen den kuriosen Wunsch nach einer Selbstauflösung ihres Nationalstaats begraben und Auslegungsspielräume des Völkervertragsrechts im eigenen nationalen Interesse ausfüllen.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Bekannt wurde er durch die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Widerstandsrecht gegen die Europäisierung („Entkerntes Gehäuse“, JF 6/12).

Foto: „Flieg‘ auf du deutscher Adler! Zur Sonne flieg‘ hinan!“ –Seeadler im Flug: Völkerrechtliche und politische Souveränität sind noch nicht deckungsgleich

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