© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Hinter dem Schleier der Gewalt
Islam und Demokratie: Warum die Muslimbrüder kompromiß- und demokratieunfähig sind
Jürgen Liminski

Islam heißt nicht Friede schlechthin, wie man uns in Europa weis- machen möchte, sondern Friede durch die Unterwerfung unter den Willen Allahs. Die kompromißunfähige, bedingungslose Unterwerfung unter das Gesetz des Islam war das Programm, mit dem die Muslimbrüder in Ägypten angetreten waren. Es ist ein jahrhundertealtes Programm. Und es zeigt letztlich, daß diese Art Gottesstaat unvereinbar ist mit einem pluralistischen System wie der Demokratie.

Im islamischen Krisengürtel zwischen Casablanca und Taschkent stehen sich zwei elementare Kräfte gegenüber: die nackte Gewalt, verkörpert in der Armee oder einem Herrscherhaus auf der einen, und die geistige Gewalt eines Glaubens auf der anderen Seite, der nicht unterscheidet zwischen Staat, Gesellschaft und Religion. Gläubige und nicht säkularisierte Muslime sehen in dieser Einheit ein Gebot (Din wa dunya wa dawla), das über jeder weltlichen Verfassung steht. Dieses Gebot macht eine demokratisch-freiheitliche Verfassung zweitrangig. Was zählt, ist das Recht der Religion, die Scharia (Pfad des Glaubens). Man muß nicht wie die Franzosen im neunzehnten Jahrhundert die nordafrikanische Region als „Barbarie“ bezeichnen. Aber zu glauben, die Fellachen im Niltal oder der Großteil der Bevölkerung sei per se demokratiefähig, verkennt die psychologische Tiefenwirkung einer Religion, die sich der Ratio verweigert.

Demokratie setzt politische Meinungsbildung voraus und das Nachdenken über verschiedene Programme und Gestaltungsoptionen der Gesellschaft. Hier liegt die Ursache für den Zweifel an der Demokratiefähigkeit islamischer Gesellschaften. Nicht nur die Einheit von Staat und Religion steht dem entgegen. Auch das ganz andere Verständnis von Wahrheit und Freiheit, mithin einer Ethik, die Gut und Böse nicht als objektive Kategorien, sondern als Schicksal ansieht, macht eine Gestaltung demokratischer Verhältnisse nach den Kriterien von Gerechtigkeit und Freiheit zu einem blasphemischen Akt.

Der arabischstämmige Amerikaner Robert Reilly hat in einem erhellenden Buch beschrieben, warum das so ist (The Closing of the Muslim Mind – Das verschlossene Denken des Islam, Wilmington 2010). Zwei Denkschulen rangen in den ersten Jahrhunderten des Islam miteinander und die eine, die Mutaziliten, setzte sich zunächst gegen die Aschariten durch. Die Mutaziliten gingen in Anlehnung an die Griechen davon aus, daß es objektiv das Gute und das Böse gebe und daß der Schöpfer den Menschen den Geist gegeben habe, um in der Natur und der Welt das Gute zu erkennen und so zu ihm zu gelangen.

Hier schwingen auch christliche Elemente mit. Zentren dieser Denkschulen waren Damaskus und Cordoba, und ein führender Vertreter dieser Schule, Abd al Dschabar, formulierte es so: „Jeder unmoralische Akt ist ein Akt von Menschen, denn Gott kann nicht unmoralisch handeln.“ Diese „Unfähigkeit“ Allahs wurde von den Aschariten fanatisch bekämpft. Sie gingen von der Allmacht Allahs als oberstem Grundsatz aus und verneinten, daß es objektiv das Gute oder Böse gebe. Gut sei, was dem Islam nutze und was Allah wolle, daß es so sei. Seine Allmacht anzuzweifeln sei blasphemisch. Die Gläubigen müßten sich dem Willen Allahs unterwerfen, ohne diesen Willen zu hinterfragen. Ebenfalls blasphemisch sei es, durch die Natur den Schöpfer erkennen zu wollen und so Wissenschaft zu betreiben. Denn die Welt und die Natur existierten, weil Allah das wolle. Jeder Versuch, über die Vernunft Gott erkennen zu wollen, sei eine Beleidigung seiner Allmacht.

Der Jurist Ibn Hanbal, dessen Denkschule heute in Saudi-Arabien vorherrscht, meinte: „All jene, die räsonieren, Analogien ziehen und eigene Meinungen entwickeln, sind Häretiker. Nehmt die Lehre einfach an, ohne zu fragen und ohne Vergleiche zu ziehen.“ Ein anderer ascharitischer Gelehrter sagte: „Der Sinn des Wortes gut besteht in dem, was der Koran als gut bezeichnet und lobt, und der Sinn des Wortes böse in dem, was der Koran verurteilt.“ Man kennt diese Haltungen unter dem Wort Kismet oder des resignierenden „Inschallah“ – so Allah es will.

Mit solchen Haltungen ist keine Demokratie zu machen. Die ascharitische Denkschule hat sich seit dem 12. und 13. Jahrhundert in der arabisch-islamischen Welt durchgesetzt, ja schon zu Beginn des 11. Jahrhunderts fing man an, Bücher zu verbrennen. So ging die Bibliothek in Cordoba, die größte ihrer Zeit, in Flammen auf. Sämtliche fundamentalistischen Bewegungen berufen sich auf diese Denkschule, auch und gerade die Muslimbrüder. Natürlich ist jede Gewalt zu verurteilen, aber es ist eigentlich unbegreiflich, warum westliche Politiker dieses demokratie-feindliche Denken hinter dem Schleier der Gewalt unterstützen.

Bis auf wenige Ausnahmen, zu denen der deutsche Außenminister Guido Westerwelle nicht zählt, verdrängt die politische Klasse in Europa und Amerika das fanatische Treiben der Muslimbrüder gegenüber Andersgläubigen. So sind in den letzten Wochen über vierzig Kirchen und mehr als hundert Häuser von Christen sowie 150 von Christen betriebene Läden angegriffen und in Brand gesteckt worden. Auch die Alexandrinische Bibliothek und Museen wurden verwüstet.

Wo bleibt der Aufschrei im Westen, im Abendland der Freiheit, Toleranz und Ratio, gegenüber den Ausbrüchen der vernunftlosen Emotionen im meist verklärten Orient? Das Morgenland ist längst nicht mehr das Land von Tausendundeiner Nacht, von Palästen, in denen Wissenschaft betrieben und nach Wahrheit geforscht wurde. Das Morgenland von heute ist das Land der Muslimbrüder.

Das ist der entscheidende Punkt: Es kann keine freiheitliche Demokratie geben ohne Anerkennung universaler Menschenrechte. Ohne diese Anerkennung bleibt es bei einer Rebellion in der „Barbarie“, ohne diese Anerkennung läuft der Impetus vom Platz der Befreiung in die Freiheitsleere der nächsten Diktatur. In seinen „Bekenntnissen eines Revolutionärs“ bemerkte ein Vorläufer des Sozialismus, Pierre Joseph Proudhon (1809–1865), einmal, es sei „überraschend, daß wir auf dem Grund unserer Politik immer die Theologie wiederfinden“.

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist, um ein arabisches Wort zu veredeln, in der Tat die Mutter aller Freiheiten. Aus ihr haben sich die politischen Freiheiten entwickelt. Von dieser Freiheit sind die Muslimbrüder und ihre Anhänger einige Jahrhunderte entfernt.

Foto. Ägyptische Anhänger der Muslimbrüder vor der Wahl Mohammed Mursis, Kairo 2012: Die Scharia steht über jeder weltlichen Verfassung

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