© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Deutschland hat das meiste zurückbezahlt
Wahrheiten und Mythen über den US-Marshallplan für die Staaten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg
Bernd Rademacher

Während des TV-Duells zwischen Kanzlerin Merkel und ihrem Herausforderer bemühte Peer Steinbrück als Begründung, daß es weitere Zahlungen an die Schuldenstaaten des Mittelmeerraumes geben müsse, den Marshall-plan aus der Nachkriegszeit. „Deutschland ist sehr massiv geholfen worden nach dem Zweiten Weltkrieg, im wesentlichen oder alleine Westdeutschland“, schlaumeierte Steinbrück in die Kameras. Damit betrat der Diplom-Volkswirt jene Pfade der Geschichtsklitterung, die linke Historiker mit ihrer Deutung des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit seit geraumer Zeit vorangehen. Neuer Tenor: Das Wirtschaftswunder ist ein Mythos und am allerwenigsten hatten die Deutschen selbst Anteil an der Leistung des Wiederaufbaus.

Die ARD strahlte einen Beitrag des Filmemachers Christoph Weber mit dem Titel „Unser Wirtschaftswunder – die wahre Geschichte“ aus. Der ehemalige Marketingchef Weber ist Leiter der Geschichtsprogramme der öffentlich-rechtlichen Anstalt. Mit einem Frage-Antwort-Prinzip wie bei der Sendung mit der Maus versucht der Film, alle bisherigen Schilderungen des Wirtschaftswunders ins Reich der Märchen zu verweisen.

Seine Produktion trieft vor Häme. Im Begleittext heißt es: „Wir Deutschen kennen uns aus und erzählen gerne ungefragt, wir haben uns nach dem Krieg selbst aus eigener Kraft ein Wirtschaftswunder geschafft.“ Mitnichten, sagt der ARD-„Chefhistoriker“ und behauptet, nur durch den großzügigen Verzicht auf Reparationszahlungen durch Kriegsgegner wie Griechenland konnten wir Deutschen den Wiederaufbau bewältigen. Seine Schlußfolgerung: Da wir nur durch das freundliche Wohlwollen anderer Länder wieder auf die Beine gekommen sind, sei es nur gerecht und angebracht, daß wir den Griechen und anderen südeuropäischen Ländern heute durch die Transferunion finanziell helfen. Dieses Fazit läßt er den Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl mit süffisantem Lächeln in die Kamera sprechen: „Man könnte aus wirtschaftlicher Sicht argumentieren – man ist quitt.“

Eine Verbindung zwischen Wirtschaftswunder und Eurokrise zieht auch Gewerkschaftsboß Michael Sommer. Er kündigte an, „den Druck zu erhöhen“, um einen neuen „Marshallplan“ für Europa aufzulegen. Das milliardenschwere Steuerpaket soll zehn Jahre lang jährlich über eine Viertelbillion Euro in einen „Europäischen Zukunftsfonds“ pumpen.

Der Marshallplan gehört zu den Kernbegriffen dieses Geschichtsmythos vom deutschen Wiederaufbau. Als allgemeiner Konsens wurde durchgesetzt: Nur durch die kräftige Finanzspritze des European Recovery Program der USA – nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall in Deutschland landläufig Marshallplan genannt – wurden die Deutschen in die Lage versetzt, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen.

Dabei hat seinerzeit auch Griechenland mit seinen sieben Millionen Einwohnern vom Marshallplan profitiert und zwar mit knapp 700 Millionen US-Dollar. Westdeutschland (mit damals 50 Millionen Einwohnern) erhielt zwar doppelt soviel, war aber bei weitem nicht der größte Empfänger. Frankreich erhielt das Zweifache (2,8 Milliarden US-Dollar) und England sogar 3,4 Milliarden. Auch Italien erhielt mit 1,5 Milliarden mehr als Deutschland. Aus dessen Westzonen wurden darüber hinaus bis zum Jahr 1948 geschätzte 5,4 Milliarden Mark (etwa 1,35 Milliarden US-Dollar) Sachwerte in Form von Demontagen an die Alliierten geliefert. Zudem wurde Deutschland als einzigem Staat die Hilfe aus dem European Recovery Program als Kredit gewährt, den die Bundesrepublik später auch zurückzahlte. Bei der Londoner Schuldenkonferenz 1966 wurde Bonn schließlich eine Restschuld von 400 Millionen der urspünglich 1,4 Milliarden US-Dollar erlassen.

Was haben die anderen Länder mit den Hilfen gemacht? Während Deutschland schon 1952 nicht mehr zu den bedürftigen Staaten gezählt wurde, gab es in England bis 1953/54 noch Lebensmittel-rationierungen. Ein hoher Vertreter der Stadtverwaltung von Paris sagte Mitte der fünfziger Jahre: „Es ist unbegreiflich! Deutschland ist wiederaufgebaut und in Paris ist jede zweite Altbauwohnung unbewohnbar!“

Von Großbritannien weiß man es nicht so genau, obwohl man dort weder großflächig zerstörte Städte und Infrastrukturen noch demontierte Industrieanlagen zu beklagen hatten. Von einem Politiker des britischen Unterhauses ist überliefert, daß er vor dem Plenum deutsche Würstchen aus seiner Tasche zog und klagte: „Das essen die Deutschen – und wir haben immer noch Lebensmittelmarken!“ Nach der Rede soll er von anderen Parlamentariern gefragt worden sein, ob er ihnen auch deutsche Würstchen besorgen könne ...

Was also hatte Deutschland, was die anderen Nationen nicht hatten? Hohe Motivation, lange Arbeitszeiten, einen Ludwig Erhard? Auch wenn sich ARD-Weber nach Kräften bemüht, Erhards Wirtschaftskompetenz zu durchlöchern – einen großen Plusfaktor auf deutscher Seite läßt die neue Geschichtsschreibung vollkommen unerwähnt: die deutschen Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten. Von türkischen Lobbyverbänden wird zuweilen die Mär vorgetragen, die Türken hätten Deutschland wieder aufgebaut. Dabei wurden aus den Besatzungszonen bis 1949 weder Visa noch Aufenthaltserlaubnisse für Deutschland vergeben. 1955 gab es 0,4 Prozent Ausländer in Deutschland, die Mehrheit davon Militärangehörige der Siegermächte. Als Westdeutschland 1959 die weltweit zweitgrößte Industrienation nach den USA wurde, war das Wirtschaftswunder vollendet bevor der erste Gastarbeiter seinen Fuß auf deutschen Boden setzte.

Tatsächlich hat eine andere Gruppe wesentlich zum Wiederaufbau beigetragen. Allein in Bayern integrierten sich 1,7 Millionen deutsche Flüchtlinge: Ostpreußen, Schlesier, Pommern und vor allem Sudetendeutsche. Gewisse Mentalitätsunterschiede, unterschiedliche Konfessionen und kulturelle Eigenheiten fielen nicht groß ins Gewicht – dafür aber eine enorme Wirtschaftsleistung. Verschiedene Studien, so auch vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, weisen darauf hin, daß die Erfahrungen totalen Verlusts materieller und sozialer Bindungen sowie der Zwang zum völligen Neustart ein größeres Bewußtsein für ökonomische Eigenständigkeit geschaffen hätten.

Foto: Wohnungsbauprojekt mit Mitteln aus dem Marshallplan, West-Berlin 1950: Großbritannien, Frankreich und Italien bekamen mehr

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