© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Jürgen Trittin und der Fluch der bösen Tat
Pädophilie-Debatte: Pünktlich zur Bundestagswahl holt den Spitzenkandidaten der Grünen die Vergangenheit seiner Partei wieder ein
Michael Paulwitz

Wenn es das Kalkül der Grünen gewesen sein sollte, durch die Bestellung eines wohlwollenden Gutachters die Aufregung um ihre Verstrickung in den pädophilen Sumpf elegant aufs Abstellgleis zu schieben, so wäre diese Rechnung nicht aufgegangen: Pünktlich eine Woche vor der Bundestagswahl ist die Debatte wieder da – und ausgerechnet durch einen Beitrag des von den Grünen selbst engagierten Göttinger Politologen Franz Walter in der taz ist auch Spitzenkandidat Jürgen Trittin in die Schußlinie geraten (Kommentar Seite 2).

Der habe 1981, als Göttinger Student und Stadtratskandidat, das Wahlprogramm der „Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL)“ presserechtlich verantwortet, in das ein Forderungskatalog der „Homosexuellen Aktion Göttingen“ zur strafrechtlichen Freistellung von sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen übernommen worden war, offenbarte Walter in seinem Beitrag für die taz. Erst tags zuvor hatte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung eine kritische Abrechnung mit der Rolle der Grünen als Plattform für „offen pädophile Propaganda“ in den Achtzigern abgedruckt. Den Text aus der Feder von Christian Füller hatte die taz wegen „zu steiler Thesen“ aus dem Blatt gekippt.

Die Grünen versuchten mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger in Richtung katholische Kirche von eigenen Verfehlungen abzulenken, dabei kläre die Kirche „genauer und gründlicher“ auf, lautet eine der Thesen Füllers. Der grüne K-Gruppen-Veteran Trittin lavierte, mit seinen vor drei Jahrzehnten vertretenen Positionen konfrontiert, ziemlich genau so, wie man es der Kirche von grüner Seite gerne vorwarf: relativieren, als längst vergessene Jugendsünden abtun und immer nur soviel zugeben, wie gerade herausgekommen ist. In früheren Interviews hatte Trittin die pädophilen Umtriebe bei den Grünen stets als Einzelfälle hingestellt. Nach Walters Artikel teilte der grüne Spitzenkandidat mit, solche „falschen Forderungen“ seien seinerzeit bei den Grünen „weit verbreitet“ und sogar Teil des Bundesprogramms der Partei von 1980 gewesen, die „Details“ seien ihm aber bis dato „nicht mehr präsent“ gewesen, und er bedaure seinen „Fehler“, sich dem „nicht entgegengestellt“ zu haben.

Es wäre nicht Wahlkampf, würde die politische Konkurrenz eine solche Blöße nicht ausnutzen. Unionsparteien überzogen den grünen Spitzenkandidaten mit Rücktrittsforderungen. „Trittin war Teil des Pädophilie-Kartells bei den Grünen und ist als Frontmann untragbar“, attackierte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt. CDU-Präsidiumsmitglied Philipp Mißfelder und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt hieben, etwas zurückhaltender, in dieselbe Kerbe. Mehrere Unionsfrauen forderten in einem offenen Brief an die grüne Ko-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt, diese solle sich aktiv in die Aufklärung der „Pädophilie-Verstrickungen“ Trittins einschalten, während Bundesfamilienministerin Kristina Schröder dem Spitzengrünen, der sich sonst doch an jedes Detail erinnern könne, wenn es seiner Entlastung diene, „blanken Hohn gegenüber allen Mißbrauchsopfern“ vorwarf.

Angesichts der wiederaufgeflammten Mißbrauchsdebatte hilft es den Grünen wenig, daß der von ihnen bezahlte Politologe Franz Walter Rücktrittsforderungen an Trittin und die ganze „Hysterie“ für „überzogen“ hält, daß SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und SPD-Chef Sigmar Gabriel dem strauchelnden Alliierten einen Persilschein ausstellen und Stuttgarts grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn die wahlkampfstrategische „Instrumentalisierung“ des Pädophilie-Themas beklagt. Nicht nur Unions-Fraktionschef Volker Kauder verweist genüßlich auf die moralische Fallhöhe der Grünen und fordert die Ernennung eines grünen Mißbrauchs-beauftragten. Auch Franz Walter verwies auf den Zusammenhang zwischen der „konsternierenden“ Sprachlosigkeit der Grünen und ihrer „moralischen Hybris, die Partei der Guten zu sein“. Die Dokumente zu Trittin seien im übrigen „bei weitem nicht das Schlimmste, was wir bisher gefunden haben“, beschied Walter. Bei seinen Auftraggebern dürfte sich die Freude über diesen Trost in Grenzen halten.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen