© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Pankraz,
M. Hartmann und die weichen Beziehungen

Kriegen wir einen neuen Ständestaat? Entwickelt sich der Kapitalismus mit Riesenschritten zurück zum Feudalismus, wo berufliche Karrieren mittels Verdienst und Begabung faktisch ausgeschlossen waren, weil alles von vornherein nach Familienherkunft und Clan-Zugehörigkeit festgelegt war und die Kinder wie selbstverständlich die Berufe ihrer Eltern übernahmen? Viele Soziologen behaupten das inzwischen, so etwa Michael Hartmann (61), der bekannte Eliteforscher an der Universität Darmstadt, der sich dabei auf statistische Erhebungen beruft.

Viele von ihnen weisen tatsächlich deutlich in Richtung Ständestaat. Banker und Großmanager bringen ihren Nachwuchs in guten, aussichtsreichen Positionen der von ihnen geführten Unternehmen unter, nicht anders als Medienfürsten und einflußreiche Journalisten, selbst wenn der Sohn oder das Töchterchen bei weitem nicht den Ansprüchen gerecht werden, die an sich erforderlich wären. Und es sind nicht bloß die Kinder, die bei der Jobsuche von der Macht der Eltern profitieren, sondern auch deren Nichten und Neffen, Schwiegersöhne und Schwipptöchter.

Nepotismus triumphiert über Meritokratie, Vetternwirtschaft über Leistungshierarchie. Das beginnt offenbar schon sehr früh. Professor Hartmann untersuchte über viele Jahre hinweg die im Jahr jeweils anfallenden Promotionen und konstatierte, daß bereits diese „hochselektiv“ seien, was die soziale Herkunft der Promovenden und ihren familiären Machthintergrund betreffe. Die Selektion setze sich dann fort bei der Jobsuche und bei der Zuordnung von Aufstiegschancen innerhalb des Jobs. Auch und gerade dort spiele Familien- oder Clan-Zugehörigkeit eine entscheidende Rolle.

Hierher gehört wohl auch jene tränenselige Geschichte von dem hochbegabten armen Jung-Ökonomen aus Deutschland in der Londoner Banken-City, die kürzlich durch die Medien gejagt wurde. Dieser Jüngling sei so fleißig und anstellig gewesen, daß er sich regelrecht zu Tode gerackert habe. Er habe vor lauter Arbeitseifer faktisch nicht mehr geschlafen, und eines Morgens habe man ihn tot in seinem Badezimmer aufgefunden, ohne erkennbare äußere Einwirkungen. Es war eine Tragödie, und man solle doch nun endlich das Arbeitstempo in der „modernen Leistungsgesellschaft“ verringern.

Pankraz vermutet allerdings, daß es sich weniger um eine Leistungstragödie als vielmehr um eine Standestragödie gehandelt hat. Der fleißige Junge hoffte auf Beförderung, doch als es schließlich so weit war, da wurde ihm ohne Kommentar und Anteilnahme ein in der Bank schemenhaft herumschweifender Sohn eines hohen Direktors vorgezogen, obwohl der viel unbegabter und höchst unfleißig war. Dies und nichts anderes wird wohl dem kleinen Streber aus Deutschland das Herz gebrochen haben.

Wie schrieb der arabischstämmige Karriereforscher Ramzy Baroud im Londoner Independent über die Lage clan-
fremder junger Aufsteiger? „Welchen Sinn hat es denn, einen Magister zu erwerben in einer Gesellschaft, in der Nepotismus bestimmt, wer was wird und tun darf? Vom Standpunkt des Eigeninteresses ist es viel vernünftiger, seine Zeit zu nutzen, um die ‘richtigen Leute’ kennenzulernen und ihnen die Visitenkarte zu überreichen, statt Jahre des Lebens damit zu verbringen, einen Universitätsabschluß anzustreben.“

Auch eine Ständegesellschaft braucht natürlich Elitenachwuchs außerhalb des eigenen Familienbereichs, sonst würde sie schnell an Inzucht und bloßem Schmoren im eigenen Saft zugrunde gehen. Doch ihre Auswahlkriterien für den Nachwuchs sind, da hat Mr. Baroud völlig recht, anders als in der Meritokratie. Die Bewerber müssen in erster Linie einen „Stallgeruch“ haben. Ich habe entsprechenden Stallgeruch, und wenn ich noch keinen habe, muß ich ihn mir erwerben. Und das ist nur möglich, indem ich die richtigen persönlichen Beziehungen aufbaue, statt Jahre in irgendwelchen Seminarräumen zu vertrödeln.

Die Soziologie spricht heute, wenn sie Stallgeruch und Nepotismus meint, von „weichen Beziehungen“, und faktisch sämtliche Soziologen räumen ein, daß ein gutes Fortkommen im Leben ohne weiche Beziehungen gar nicht möglich ist. Der Mensch ist von Natur aus kein einsames, mag sein mit erstklassigen Beganungen ausgestattetes Einzeltier, das überall mit offenen Armen aufgenommen wird, nur weil er gelehrt oder wenigstens gut ausgebildet ist. Er gehört immer irgendwo dazu, und die Zugehörigkeit ist, wenn es darauf ankommt, stets wichtiger als eine Doktorarbeit, von Bachelor-Zertifikaten zu schweigen.

In dieser Perspektive – und es ist die richtige, unserer Natur angemessene – darf man es begrüßen, wenn sich in unserer sogenannten kapitalistischen Leistungsgesellschaft „feudalistische Überreste“ behaupten und sogar wieder Raum gewinnen. Es kommt, wie immer im Leben, „nur“ darauf an, das rechte Maß zu wahren, den Nepotismus nicht zu frech werden zu lassen und darauf zu achten, daß wahren Talenten und Begabungen nie die Türen zum Aufstieg definitiv verschlossen werden.

Dergleichen hat übrigens die reale Ständegesellschaft im Mittelalter nie versucht, stets gab es in ihr für aufgeweckte Geister genügend Möglichkeiten, den Zünften oder festen Dorfgemeinschaften ade zu sagen und sich andere Lebenschancen zu erobern, auch sich „zu Höherem“ aufzuschwingen, Abt, Universitätsprofessor oder Rittersmann zu werden. Die von „unten“ kamen, hatten es selbstredend schwerer als diejenigen, die schon von Herkunft aus in einem gemachten Bett lagen, aber es hat ihnen nicht geschadet, im Gegenteil, es hielt sie drahtig und erweiterte ihren Erfahrungshorizont.

Andererseits: Die sogenannte „moderne Leistungsgesellschaft“, die wir heute angeblich haben, ist alles andere als eine wackere Meritokratie. In ihr entscheiden vor allem Bürokraten und politische Parteihengste über den beruflichen Aufstieg von ehrgeizigen jungen Leuten, und die sind in der Regel viel ungerechter als Familienväter.

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