© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Schwangerschaftskonfliktberatung
Für ein Leben mit Kind
Friederike Hoffmann-Klein

Für das erste Quartal 2013 vermeldet das Statistische Bundesamt 28.061 Abtreibungen. Eine hohe Zahl. Die Behörde, die verpflichtet ist, eine Statistik über die nach der Beratungsregelung des Paragraphen 218a Strafgesetzbuch (StGB) vorgenommenen Abtreibungen zu erstellen, hat in diesem Jahr kurzerhand darauf verzichtet, diese Statistik im Rahmen einer Pressemitteilung zu veröffentlichen. Zur gleichen Zeit äußert sich Familienministerin Kristina Schröder (CDU) erfreut über die leicht steigende Zahl der Geburten, ohne die Abtreibungszahlen zu erwähnen.

Das Schweigen staatlicher Stellen läßt sich nur schwer mit dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts im Zweiten Abtreibungsurteil von 1993 vereinbaren, den Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewußtsein zu erhalten. Mit einem bloßen Verweis auf die Abtreibungsstatistik wird der Beobachtungspflicht kaum Genüge getan. Da hilft es auch nicht, daß die Statistik nach dem Willen des Gesetzgebers darüber Auskunft geben soll, ob das Beratungskonzept einem an den verfassungsrechtlichen Wertmaßstäben orientierten wirksamen Lebensschutz Ungeborener noch Rechnung trägt.

Die hohe Zahl der Abtreibungen wirft nicht nur die Frage auf, ob das Beratungskonzept überhaupt geeignet ist, das Rechtsgut des ungeborenen Lebens zu schützen. Wir müssen uns auch fragen, ob wir als Gesellschaft genug tun, um Frauen in der Konfliktlage einer ungewollten Schwangerschaft zu helfen.

Nach dem Strafgesetzbuch ebenso wie dem Schwangerschaftskonfliktgesetz soll die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen. Dieses Ziel wird in der Praxis oft nicht erreicht. Wie leicht geschieht es, daß eine Frau, die eine Beratungsstelle aufsucht, den Schein in Händen hält, noch bevor sie überhaupt Gelegenheit hatte, über ihre Situation zu sprechen! Die Beraterin zeigt sich natürlich verständnisvoll: Ein weiteres Kind, das könne sie sich jetzt nicht zumuten. Dabei entgeht ihr, daß die Schwangere Ermutigung sucht zu einem Leben mit dem Kind, daß sie möchte, daß man ihr einen Weg aufzeigt, wie es möglich ist, das Kind zu behalten.

Eine Beratung, die das Selbstbestimmungsrecht absolut setzt, entspricht der Einstellung von Pro Familia. Denn was ist von einer Beratungsorganisation zu halten, die

• sich seit Jahren für die Streichung des Paragraphen 218 einsetzt

• die den – verfassungsrechtlich gebotenen – „Schutz des ungeborenen Lebens“ als „frauenfeindlich“ und „deutsch-katholisch“ bezeichnet

• die von „Zwangsberatung“ spricht, welche die Berater in ihrem professionellen und politischen Selbstverständnis verletze; um dem entgegenzuwirken, sei es notwendig, der Frau diesen Standpunkt zu demonstrieren, indem ihr gleich zu Beginn des Gesprächs der Schein auf den Tisch gelegt werde

• die Terminologie „ungeborenes Kind“ als Sprachentgleisung sieht

• die leugnet, daß der Embryo ein eigenes Rechtssubjekt sei und diese Argumentation, die ja in Wirklichkeit diejenige des Verfassungsgerichts ist, als Argumentation der „Lebensretter“ und Abtreibungsgegner bezeichnet.

Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verboten sein muß, weil nur so der rechtliche Schutz des ungeborenen Kindes verwirklicht werden kann (Zweites Abtreibungsurteil vom 28. Mai 1993, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 1751 ff.). Dem korrespondiert nach Auffassung des höchsten deutschen Gerichts eine grundsätzliche Rechtspflicht der Mutter, das Kind auszutragen. Die Entscheidungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Mutter finden hieran ihre Grenze. Im Prinzip gilt dies während der gesamten Dauer der Schwangerschaft. Abtreibung ist und bleibt Unrecht. Weil es bei dem Ungeborenen um vitale Interessen geht, denen auf seiten der Frau nicht-vitale Interessen gegenüberstehen, geht das Lebensrecht des Kindes dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter vor.

Mit dem Beratungskonzept, das das Bundesverfassungsgericht im Zweiten Abtreibungsurteil billigt, haben Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht deshalb kein Selbstbestimmungsrecht geschaffen, welches der Frau die freie Entscheidung über Fortsetzung oder Beendigung einer Schwangerschaft gestatten würde. Das Selbstbestimmungsrecht kann, so sagt es das Bundesverfassungsgericht, nicht einmal für eine begrenzte Zeit, etwa die ersten drei Monate, als vorrangig gegenüber dem Lebensrecht des Kindes angesehen werden.

Diese Rechtslage spiegelt sich auch im Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) von 1992 grundsätzlich wider, auch wenn dieses auf den ersten Blick liberaler erscheint. Nach Paragraph 5 SchKG dient die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens. Dies entspricht exakt den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Zweiten Abtreibungsurteil. Im Mittelpunkt der Beratung steht – so sagt es auch Paragraph 219 StGB – die Perspektive für ein Leben mit Kind. Gleichzeitig sieht das Gesetz in Paragraph 5 Absatz 1 Satz 1 SchKG ebenso wie Paragraph 219 StGB eine ergebnisoffene Beratung vor. Was ist damit gemeint?

Der Gedanke der ergebnisoffenen Beratung sagt zunächst einmal etwas Selbstverständliches. Dahinter steht die Vorstellung, daß das Beratungskonzept nur dann funktioniert, wenn die Schwangere sich öffnen, sich auf das Gespräch einlassen kann – und dies stehe eben unter der Bedingung, daß die Beratung ergebnisoffen sein müsse. Was heißt nun „ergebnisoffen“? Ist hiermit die von Pro Familia in Anspruch genommene Haltung der Neutralität gemeint? Wohl kaum.

Ergebnisoffen dürfe nicht als wertneutral mißverstanden werden, schreibt ein Kommentator zum Schwangerschaftskonfliktgesetz. Dies ergibt sich aus Paragraph 5 Absatz 1 SchKG selbst. Die einzelnen Sätze müssen im Zusammenhang gesehen werden: Wenn Paragraph 5 Absatz 1 Satz 4 SchKG dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen soll, hat diese Aussage auch Auswirkungen auf die Frage, was unter einer ergebnisoffenen Beratung im Sinne des Satzes 1 zu verstehen ist. Die Beratung darf nicht wertneutral sein, sondern muß statt dessen die Wertmaßstäbe unseres Grundgesetzes zum Ausdruck bringen.

Auch die Erfahrungen der Beratungsstellen, welche keinen „Schein“ ausstellen, sprechen dagegen, Ergebnisoffenheit mit Neutralität oder gar einer Haltung „pro choice“ zu verwechseln. Es liegt im Wesen einer Beratung, daß sie, die ja kein Zwang ist, das Ergebnis letztlich nicht beeinflussen kann. Nur dies ist mit „ergebnisoffen“ gemeint. Auch eine noch so gute Beratung, die die Frau und ihren Konflikt ernst nimmt und sich um eine gute Lösung bemüht, kann nicht ausschließen, daß sich die Schwangere doch gegen ihr ungeborenes Kind entscheidet, aus welchen Gründen auch immer. Insoweit ist jede Beratung ergebnisoffen.

Neutralität kann es in einem Schwangerschaftskonflikt nicht geben. Neutralität führt dazu, der Schwangeren die alleinige Last der Entscheidung aufzubürden. Dabei wird außer acht gelassen, daß sie sich in einer geschwächten Position befindet. Bedingt durch die Hormonumstellung in den ersten Wochen der Schwangerschaft und die Sorgen und Ängste, die sie aufgrund ihrer Konfliktsituation bedrängen, ist sie kaum in der Lage, eine wirklich freie, vernünftige Entscheidung zu treffen.

„Neutralität“ bedeutet deshalb im Letzten Gleichgültigkeit gegenüber der Schwangeren und ihrem Konflikt, nach dem gar nicht mehr gefragt wird. Gleichgültigkeit: es ist mir gleich, wie du dich entscheidest – diese Einstellung entspricht aber weder der Funktion, die die Beratung einnimmt, noch der inneren Befindlichkeit der Schwangeren. Eine Beratung, die davon absieht, der Schwangeren lebenserhaltende Perspektiven aufzuzeigen, kann sich deshalb auf das Schwangerschaftskonfliktgesetz nicht berufen. Gleichwohl ist eine solche Beratung in der Praxis durchaus üblich.

Mit einer „neutralen“ Haltung ist es auch nicht möglich, nach dem zu fragen, was die Schwangere in ihrer Lage wirklich will und braucht. Sie kann, mit dieser gleichgültigen Haltung der Umwelt konfrontiert, der Lösung ihres Konflikts nicht näher kommen. Die Schwangere kommt mit ihrer Person zu kurz. Die „Vernunftgründe“ der Umgebung („Erst das Studium“) sind dann dominant, sie lassen nicht zu, einer Spur von Freude, die die Frau vielleicht, trotz allem, gegenüber der Schwangerschaft empfindet, Raum zu geben. Ihre eigenen Gefühle werden damit übergangen.

Diese Haltung der Neutralität liegt auch vor, wenn der Mann sagt: „Ich stehe zu dir, egal wie du dich entscheidest.“ Das ist gut gemeint, hilft der Frau aber nicht weiter. Sie bräuchte ein Mehr an Unterstützung, ein Mehr an Zusage, im Sinne von: „Ich will unser Kind.“

Durch eine Beratung, die den Standpunkt einnimmt, die Frau in ihrer Entscheidung nicht zu beeinflussen, um ihre – angebliche – Entscheidungsfreiheit zu achten und ihrem – angeblichen – „Recht auf Abtreibung“ Rechnung zu tragen, können Frauen deshalb leicht in eine Situation geraten, die für sie zu einem nicht gewollten Ergebnis führt. Sie verlieren die Kontrolle über die Situation und merken dies erst, wenn es zu spät ist. Im entscheidenden Zeitpunkt ihres Handelns waren sie fremdbestimmt.

Um der ratsuchenden Frau in der für sie existentiellen Notlage helfen zu können, muß sich die Beraterin in ihre Situation hineinversetzen, die diese zunächst vielleicht nur vorsichtig angedeutet hat. Sie muß dabei zwischen den Zeilen lesen, ergründen, was die Frau sich tatsächlich wünscht, was das eigentliche Problem ist, das es ihr nicht möglich macht, die Schwangerschaft anzunehmen. Die Beraterin kann ihr helfen, indem sie sie auf ihre Stärken aufmerksam macht. Sie soll Zutrauen zu sich selbst fassen. Dabei kommt dann für sie vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer. Diese Hilfe wird häufig von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen geleistet, die auf eine Ausstellung des „Scheins“ verzichten.

Nicht immer gelingt es, die Schwangere zu erreichen. „Ich wollte nur sagen, daß ich versagt habe. Ich habe beim sechsten Anlauf abgetrieben. Es ist schlimm, und wie wahrscheinlich viele Frauen bereue ich es total und komme mir vor wie der letzte Mensch. Im Spiegel anschauen kann ich mich auch nicht mehr. (…) Ich bin fix und alle.“ So schreibt eine Frau nach ihrer Abtreibung. Sieht so die wiedererlangte Freiheit aus?

Sicher, es gibt auch eine Haltung, die versucht, den Schwangerschaftsabbruch leichtzunehmen. Frauen, die sich gegen ein Kind entscheiden, weil es gerade nicht in die Lebensplanung paßt, weil die Karriere wichtiger ist, die Beziehung, die Freiheit. Autonomie ist heute ein Höchstwert. Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung sind nicht in Frage zu stellen. Eine in dieser Weise verengte Perspektive, die nur die Frau im Blick hat, übersieht jedoch, um was es wirklich geht, um ein einmaliges, unverwechselbares Kind, dessen Leben unwiederbringlich zerstört wird. Wollen wir das? Wollen wir Selbstverwirklichung um diesen Preis?

Welche Folgerungen lassen sich aus den hier dargestellten Widersprüchen ziehen? Entgegen der Hoffnung, die das Bundesverfassungsgericht mit der Beratungsregelung verbunden hat, hat sich diese in der Praxis nicht bewährt. Das gilt in der Regel jedenfalls für die anerkannten Beratungsstellen. Es sind, paradox genug, gerade die außerhalb des staatlichen Beratungssystems stehenden Beratungsstellen, die in ihrer Arbeit den Maßstäben des höchsten deutschen Gerichts entsprechen. Weil sie auf den Beratungsschein verzichten, verweigert ihnen der Staat die Unterstützung. Sie finanzieren sich ausschließlich durch Spenden. Das Beratungskonzept gehört deshalb auf den Prüfstand, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.

 

Dr. Friederike Hoffmann-Klein, Jahrgang 1967, arbeitet als Juristin mit Schwerpunkt Eu­ropa- und Kirchenrecht in Freiburg. Sie ist stellvertretende Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL) Baden-Württemberg und Mitglied in deren Bundesvorstand. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt über die Ehe als ein Gegenmodell („Der Ausweg: Liebe leben“, JF 6/13).

Foto: Schwangere: „Ich will unser Kind“ statt „Ich stehe zu dir, egal, wie du dich entscheidest“

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