© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Wenn eine Zwangsgemeinschaft auseinanderfällt
Martin Malek und Anna Schor-Tschudnowskaja haben ein beachtliches Werk über das Ende der Sowjetunion vorgelegt
Jürgen W. Schmidt

Man stelle sich eine wild zusammengesetzte Union von Staaten unterschiedlicher Größe, Sprache, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft vor. Eine demokratisch nicht ausreichend legitimierte Bürokratie, welche sich im Besitz einer heilsbringenden Ideologie glaubt, regiert selbst kleinste Details praxisfremd und zentralistisch aus weiter Ferne. Diese allein schreibt allen Bürgern vor, was Recht und Unrecht ist. Andersdenkende werden als Dissidenten verfolgt und die Massenmedien verbreiten nur offiziöse Propaganda. Feindseligkeit gegen die Zentralgewalt und ethnische Widersprüche regen sich zunehmend und die Wirtschaft ist von steten Krisen geschüttelt.

Ein Schelm, wer hier an die EU denkt, denn es geht in dem von Martin Malek (Landesverteidigungsakademie Wien) und Anna Schor-Tschudnowskaja (Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien) herausgegebenen Sammelband um den Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Martin Malek stellt in einem kenntnisreichen Vorwort alle derzeit gängigen Theorien über den Untergang der Sowjetunion vor und 23 europäische Wissenschaftler beschreiben in ihren Aufsätzen spezielle Facetten jenes Untergangs.

Es wird die Rolle der sowjetischen „Intelligenzija“ und der „Dissidenten“ aufgezeigt, ebenso wie die Einflüsse des Afghanistan-Konflikts, der Kraftwerkskatastrophe von Tschernobyl und des blutigen armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um Nagorny Karabach. Andere Beiträgen behandeln die verborgenen Zersetzungsprozesse in Sowjetarmee und KGB, in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und in der Wirtschaft.

Am konkreten Beispiel der baltischen Staaten, der Ukraine, Moldawiens, Georgiens, Armeniens, Aserbaidschans, der „autonomen Republiken“ innerhalb der RSFSR und Tschetscheno-Inguschetiens zeigt das Buch, wie sich die politische und territoriale Desintegration der einstigen Weltmacht in den wenigen Jahren von der hoffnungsschwangeren Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU 1985 bis zum verzweifelten Putsch sowjetnostalgischer Hardliner im August 1991 vollzog.

Aus den Beiträgen ergibt sich, daß der Zerfall der Sowjetunion wohl weniger auf den Folgen des verlorenen Wettrüstens mit den USA beruhte. Auch wenn der wirtschaftliche Zustand der Sowjet-union marode war, hätte man gestützt auf die riesigen, auf dem Weltmarkt gut verkaufsfähigen Rohstoffreserven noch lange vor sich hin wursteln können.

Drei andere Faktoren sind es, die das Scheitern des noch zu Beginn der siebziger Jahre monolithisch erscheinenden, ja expandierenden Sowjetimperiums unvermeidlich machten. Man hatte in der Sowjetunion jahrzehntelang, ähnlich wie heutzutage in der EU, die Kraft ethnischer Faktoren unterschätzt, weil man sich im Besitz der allein heilsbringenden Ideologie glaubte. Diese zuerst den eigenen Bürgern und danach auch allen Fremden aufgenötigt, glaubte man die Menschen zu ihrem Glück zwingen zu können. Doch die Kraft der kommunistischen Ideologie nutzte sich im Laufe der Jahrzehnte ab, selbst in Institutionen wie Armee und Geheimdienst.

Gorbatschow hatte nur noch aus Prestigegründen einige Leninbände auf seinem Arbeitstisch liegen, ansonsten wurden die kommunistischen Klassiker nicht einmal mehr von den Politbüromitgliedern gelesen. Ebenso hielt Gorbatschow, ähnlich wie alle Sowjetführer vor ihm, die nationale Frage in der Sowjetunion ein für allemal gelöst. Er war deswegen völlig erstaunt, mit welcher Wucht diese nationale Frage urplötzlich an allen Ecken der Sowjetunion emporkochte und kein Rezept zur Lösung der teilweise seit 1918 existierenden Probleme half. Als dann selbst die sehr leidensfähigen ethnischen Russen gegenüber dem in ihren Augen ungehörigen Separatismus der Sowjetrepubliken vom Rand des Imperiums die Geduld verloren und jene vermeintlich „Undankbaren“ nicht mehr wirtschaftlich subsidieren wollten, war der Schlußpunkt beim Zersetzungsprozeß der einstigen Weltmacht erreicht.

Hinzu kam eine Reihe im Westen heute noch eher unbekannter, subjektiver Faktoren, die über den Faktor Mensch den Zusammenbruch begünstigten. So starteten die Putschisten vom August 1991, welche eigentlich die Sowjetunion in ihrem ursprünglichen Umfang bewahren wollten, ihre Aktion im denkbar unpassendsten Moment, als zumindest noch die wichtigsten Republiken wie Rußland, die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan gesonnen waren, eine lockere staatliche Föderation aufrechtzuerhalten. Boris Jelzin lief in jener Zeit zur Hochform auf, während der im Westen maßlos überschätzte Gorbatschow die Ereignisse nicht mehr zu begreifen schien. Der vorliegende Sammelband verspricht ein Standardwerk zu werden.

Martin Malek, Anna Schor-Tschudnowskaja (Hrsg.): Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen, Begleiterscheinungen, Hintergründe. Nomos Verlag, Baden-Baden 2013, broschiert, 504 Seiten, 84 Euro

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