© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Der Flaneur
Michelangelos Mahlzeit
Claus-M. Wolfschlag

Hinten schreit eine Betrunkene mit verquollenem Gesicht: „Hey, red’ mal mit mir.“ Dann fährt die U-Bahn los. Mir gegenüber sitzen zwei Buben in Jeans und T-Shirts, neben mir ihre blonde Mitschülerin. Die Jungen sind schmächtig, der eine dunkelblond, der andere mit leicht mediterranem Teint. Auch das Mädchen hat noch teils kindliche Züge. Ich hätte alle auf 15 geschätzt, doch offenbar besuchen sie schon die gymnasiale Oberstufe.

Keß und in gutem Deutsch sprechen sie von Leistungskursen und machen sich leise über die Alkoholikerin lustig. „Mein Schlüssel ist weg, der ist beim Pedro“, schreit die. „Aha, beim Pedro, jetzt wissen wir’s endlich“, kichert der mediterrane Junge und erzählt dann vom Kunstunterricht: „Wir haben über Michelangelos Bild gesprochen. Das hieß ‘Mahlzeit’.“ „Nein, das hieß anders. ‘Michelangelos Essen’. Oder so ähnlich. Was mit ‘E’“, sagt der Dunkelblonde.

Der Mediterrane tippt „Michel­angelo Mahlzeit“ in sein Smartphone. Ich überlege, ob sie nicht eigentlich nach Leonardi da Vinci suchen. Dann erzählt das Mädchen, daß es im LK Bio schlecht sei, aber bei diesem Lehrer immer gute Noten hätte. „Das ist dein Titten-Bonus“, antwortet ihr der Dunkelblonde. Das Mädchen schweigt und grübelt wohl. Ich vermeide es, mich zur Seite zu drehen, um die Behauptung zu überprüfen. „Ich aber habe bei dem die Hurensohnkarte gezogen“, ergänzt der Junge. Sein Freund googelt noch. „Gib einfach ‘Michelangelo E’ ein, dann findest du es“, sagt ihm der Dunkelblonde. „Wir müssen raus“, schreit hinten die Betrunkene zu ihrem dürren, Bier trinkenden Freund.

Auch ich springe auf und sage den Schülern dabei: „Schaut mal nach ‘Abendmahl’.“ Ihre Münder öffnen sich: „Ja! Das ist es!“ Und der Dunkelblonde fragt mich: „Woher wissen Sie so etwas?“ Zur Erklärung des Abendmahls reicht die Zeit nicht, die Zugtür springt auf, und ich antworte nur: „Ich habe mal Kunstgeschichte studiert.“ Sie nicken überrascht.

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