© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/13 / 27. September 2013

Als die Berliner Republik laufen lernte
Edgar Wolfrums Versuch, einen ersten historischen Rückblick auf die rot-grüne Koalition zu wagen
Erik Lehnert

Als im Jahr 1999 der Umzug der rot-grünen Bundesregierung nach Berlin erfolgte, verbanden sich mit diesem Schritt zahlreiche Befürchtungen. Auf linker Seite, aber auch international, sah man, oftmals unausgesprochen, Grund zu der Annahme, daß mit der Rückkehr nach Berlin (und damit in die alte Reichshauptstadt) neue deutsche Begehrlichkeiten geweckt werden würden. Das Schlagwort von der „Berliner Republik“ machte die Runde und man wußte nicht so richtig, was man davon halten sollte.

All diesen Befürchtungen über einen Kontinuitätsbruch in der Nachkriegsgeschichte schob der Historiker Heinrich August Winkler bald einen Riegel vor. Er interpretierte den Umzug nach Berlin als den letzten Schritt auf dem „langen Weg nach Westen“, den Deutschland zurückgelegt hatte. Damit lieferte Winkler so etwas wie den geschichtspolitischen Überbau für die nächsten Jahre der rotgrünen Regierung.

Es ist daher nicht verwunderlich, daß ein Schüler von Winkler es unternimmt, die erste Geschichte Deutschlands unter Rot-Grün zu schreiben. Edgar Wolfrum, Jahrgang 1960, promovierte bei Winkler über die Sozialdemokratie in der französischen Besatzungszone und lehrt seit 2003 Zeitgeschichte in Heidelberg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte der Bundesrepublik und, im größeren Rahmen, auf der Geschichtspolitik. Daß er Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung ist und zudem in einem wissenschaftlichen Beirat der Heinrich-Böll-Stiftung sitzt, dürfte für eine Geschichte der rot-grünen Bundesregierung zumindest hohe Anforderungen an die wissenschaftliche Objektivität von Wolfrum stellen. Erschwerend kommt hinzu, daß das Ende der Zeit, die Wolfrum hier auf breitestem Raum behandelt, noch nicht einmal zehn Jahre zurückliegt. Die Bewertung ist dementsprechend zaghaft, zumal ihm viele offizielle Quellen, die einer Sperrfrist unterliegen, nicht zur Verfügung standen. Dafür hat sich Wolfrum auf die Akten der Akteure gestützt und diese durch Gespräche mit Zeitzeugen ergänzt.

Die Ereignisse der Jahre 1998 bis 2005 dürften den meisten Zeitgenossen noch in Erinnerung sein und wer von diesem Buch Enthüllungen erwartet, wird enttäuscht werden. Wolfrum fängt mit dem neuartigen Wahlkampf an, den die SPD mittels ihrer „Kampa“ und dem Begriff „Neue Mitte“ führte. Das Epochemachende, das Wolfrum immer wieder strapaziert, läßt er damit beginnen, daß 1998 erstmals die ganze Regierung ausgetauscht wurde – vorher blieb wenigstens die FDP an der Macht.

Dann kamen der Kosovokrieg, an dem sich Deutschland erstmals wieder als kriegsführende Nation beteiligte, das neue Staatsbürgerrecht, die BSE-Krise und schließlich der 11. September 2001, der die „uneingeschränkte Solidarität“ provozierte und deren Folgen wir in Afghanistan bis heute zu tragen haben. Die Wiederwahl Schröders stellten dann das Jahrhunderthochwasser 2002 und sein Nein zur Beteiligung am Krieg im Irak sicher. Die Agenda 2010 war das innenpolitische Wagnis, das Schröder einzugehen bereit war und das ihn die erneute Wiederwahl kostete. Daß Schröder in dieser Frage nicht nur inhaltlich Format, sondern auch den Mut zu vorgezogenen Neuwahlen bewiesen hatte, ist sicher ein Punkt, der ihn angesichts der heutigen Lähmungserscheinungen bereits jetzt in einem historischen und verklärenden Licht erscheinen läßt: Damals war noch Politik möglich.

Vergangenheitspolitische Erneuerung wirkt bis heute

Doch neben diesen Moment wird man zahlreiche anderen setzen müssen, die eben die Weichen in eine falsche Richtung gestellt haben. Dabei ragen insbesondere die geschichtspolitischen hervor, die diese Jahre in ein spezielles Licht tauchen. Bereits in der Einführung betont Wolfrum, wie groß das Ansehen Deutschlands in jenen Jahren international war, obwohl die rot-grüne Bundesregierung innenpolitisch so scharf bekämpft wurde: „Dies war nicht zuletzt Folge einer erinnerungskulturellen und vergangenheitspolitischen Erneuerung“ in jenen Jahren. Laut Wolfrum war die Relativierung des „historisch einmaligen Ereignis Holocaust“ der Preis dafür, daß im „Namen der Humanität“ im Kosovo Krieg geführt werden konnte. Die geschichtspolitische Faszination geht bei Wolfrum so weit, daß der merkwürdige Boykott Österreichs nach der Beteiligung von Haiders FPÖ an der Regierung von ihm zum „Gründungsmythos einer europäischen Nation“, dessen Chiffren der Holocaust, das „Nie wieder“ und das „Wehret den Anfängen“ seien, erhoben wird.

Interessant ist es, wenn Wolfrum eindeutige Niederlagen der rot-grünen Regierung beschreibt, wie beispielsweise die Einführung des neuen Staatsbürgerschaftsrechts, gegen das sich damals die CDU mittels einer Unterschriftenkampagne profilierte und so die Hessen-Wahl gewinnen konnte. Wolfrum sieht hier die SPD-Pragmatiker in der Gefangenschaft der grünen Fundamentalisten, die unbedingt einige ihrer „Minderheitenthemen“ behandelt sehen wollten. Am Ende war, das legt Wolfrum nahe, der Rassismus der Deutschen schuld, was ihn nicht davon abhält, den Multikulturalismus der Grünen als weltfremde linke Ideologie darzustellen.

Ähnlich erging es Rot-Grün mit der Modernisierung der Gesellschaft unter dem Begriff der Zivilgesellschaft, was flache Hierarchien und Bürgerbeteiligung suggerieren sollte, jedoch scheiterte, weil Umfragen ergaben, daß die Deutschen nicht zwischen Zivildienst und Zivilgesellschaft unterscheiden konnten. Das mit großem intellektuellen Aufwand begonnene Projekt wurde schnell begraben, hat aber wie so vieles seinen Weg zum politischen Gegner gefunden, der es heute wie selbstverständlich verwendet.

Die Perspektive, aus der dieses flüssig geschriebene Buch verfaßt wurde, ist die der rot-grünen Akteure. Ihre Ziele und ihre Interpretationen bilden den Hintergrund der Darstellung, ohne daß Wolfrum diese Schieflage problematisieren würde. Zur Kontextualisierung dienen ihm vor allem die Bewertungen politischer Kommentatoren, wobei Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) von Wolfrum mit Abstand am häufigsten zitiert wird. Es ist zudem bezeichnend, daß ein Zeithistoriker von der „Wiederkehr der vollen Souveränität“ spricht, ohne diese Floskel auch nur ein einziges Mal zu hinterfragen. Die wirkliche Aufarbeitung der rot-grünen Jahre steht damit noch aus.

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