© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/13 / 04. Oktober 2013

Pankraz,
D. Diderot und die Küchenmesser

Er war der Sohn eines Küchenmesserschmieds, und auch er selbst war im Grunde sein Leben lang ein Küchenmesserschmied: Denis Diderot, der vor 300 Jahren, am 5. Oktober 1713, geboren wurde. In der intellektuellen Welt wird er in diesen Tagen als Zentralgestirn der „Aufklärung“ und als Schöpfer der legendären „Encyclopédie“ kräftig gefeiert.

Sein Geburtsort, Langres, ist ein französisches Städtchen in der Champagne am Fuße der Ardennen, in dem heute etwa 8.000 Menschen leben; genauso viele wie zur Zeit von Diderots Erscheinen. Auch sonst hat sich dort seitdem kaum etwas geändert. Aber bei Langres entspringen einige der wichtigsten Flüsse Frankreichs, die Seine, die Marne, die Aube. Man kann von hier per Schiff bis nach Paris gelangen.

Auch der junge Diderot verzog sich bald nach Paris, aber nicht, um an der Universität zu studieren oder einen festen Beruf zu ergreifen, sondern „einfach so“. Er sah sich um, nippte hier und da an Dingen, die ihn momentan interessierten. Zunächst war er Anwaltsgehilfe, schrieb später Predigten für Geistliche, begeisterte sich für Molières Theater im Palais Royal, schaute hin und wieder in medizinische oder anatomische Seminare hinein, bot dem Mercure de France Artikel an, geriet in schwere Geldnöte, als die Zuwendungen von zu Hause aufhörten.

Mit einem Wort: Diderot war von Anfang an ein „intellektueller Herumtreiber“ (Jean Starobinski), ein Bohemien wie er im Buche steht, der erste erkennbare Typ dieses Genres in Europa überhaupt. Dauernd wechselte er die Themen, die Perspektiven, die Meinungen, so wie er im bürgerlichen Leben dauernd die Wohnungen wechselte. Sein eigentlicher Wohnsitz waren die Caféhäuser, die sich genau zur Zeit seiner Ankunft in Paris rund um den Palais Royal etablierten. Dort hing er Tag für Tag herum, schrieb irgend etwas oder unterhielt sich mit Rameaus Neffen und anderen.

Diderots intellektuelle Attitüde war kritisch, wie es der Zeitgeist im Reich der Madame Pompadour gebot, seine kritischen Stiche reichten jedoch nie tief, eben Küchenmesser, nie schwere Säbel oder elegante Degen. Seine Theaterstücke taugten nichts, seine philosophischen Ansichten bezog er zunächst von Shaftesbury und Voltaire, später von ausgemachten Materialisten und Sensualisten à la Holbach und La Mettrie. Mit Rousseau stritt er sich nur, dessen Lebensernst und Naturliebe gingen ihm auf die Nerven.

Aber Diderot war nicht eitel. Das meiste von ihm Geschriebene ließ er im Schubfach verschimmeln, es wurde erst lange nach seinem Tod allmählich zutage gefördert, so gerade das Beste, etwa die Romane „Jacques der Fatalist“ und „Rameaus Neffe“. Es ging dem Mann nie um sich selbst, immer nur voll um die Sache, die er jeweils ins Auge gefaßt hatte. Im persönlichen Umgang war er charmant und höchst verträglich. Seine ungeheure, unstillbare Lust auf neue Erfahrungen und Erkenntnisse bezauberte die Mitwelt und schuf ihm viele Freunde.

Seine große Stunde kam, als er Jean-Baptiste le Rond d’Alembert begegnete, einem der besten Mathematiker und Physiker des 18. Jahrhunderts, der ihm die Bekanntschaft des reichen Verlegers André Le Breton vermittelte. Zusammen faßten sie den Plan zur Herausgabe einer monumentalen „Enzyklopädie des wirklichen Wissens“, finanziert von Le Breton. Gesagt, getan. Das Unternehmen wurde einer der größten publizistischen Erfolge des Abendlands, und es war vor allem Diderot, der den Ruhm dafür erntete.

Über 6.000 Artikel für das Werk hat er selbst geschrieben, von insgesamt 72.000 Eintragungen. Daneben war er unermüdlich unterwegs, um berühmte Zeitgenossen, die natürlich immer auch „absolute Kenner ihres Fachs“ waren, als Mitarbeiter zu gewinnen, und sein Charme und seine nicht nachlassende Begeisterung machten Eindruck, sorgten für regsten Zulauf. Bald gehörte es in Paris und wenig später auch im ganzen übrigen vornehmen Europa gleichsam zum guten Ton, Beiträge für die „Enzyklopädie“ zu liefern, obwohl die staatlichen Behörden das oftmals nicht gern sahen und manchmal sogar Strafen dagegen verhängten.

Blättert man heute in den Originalbänden der von Diderot bis zu seinem Tod im Jahre 1780 edierten „Encyclopédie“, so wird man bald konstatieren, daß darin ein streckenweise recht unguter, nämlich rechthaberischer und manchmal sogar anmaßender Tenor herrscht, der dem Wesen eines gediegenen Sachwörterbuchs geradezu hohnspricht. Es geht den Autoren oft gar nicht um die Sache selbst, sondern darum, wie man sie zu sehen hat und wie falsch man sie in früheren Zeiten angeblich gesehen hat. Es wird unentwegt korrigiert, ironisiert, das betreffende Phänomen auf seine „wahren Ursachen“ zurückgeführt.

Man muß es wohl so sagen: Eine neuartige Geistessklaverei macht sich breit, die im Grunde viel schlimmer ist als die alte, mittelalterlich-christliche. Früher hatte man den Geist, mag sein, zum Diener oder Knecht übersinnlicher Mächte gemacht, sein Inneres aber, seine Entscheidungs-Souveränität vor Gott und Teufel im wesentlichen unangetastet gelassen. Diderots Enzyklopädisten nun zielten gerade auf die Geistesfreiheit. Sie war ihnen nichts als Einbildung und Illusion, ohnmächtiger Reflex auf „materielle“ Bewegungen, die angeblich unübersteigbar sein sollten.

Mit Diderot & Co. fing das verhängnisvolle Reduzieren an, das Zurückführen aller natürlichen Zusammenhänge auf schlicht quantitative „Basisvorgänge“. Die Zentralphrase des modernen Ideologiebetriebs, das „Nichts weiter als“, startete ihre Karriere. Für den Enzyklopädisten La Mettrie war der Mensch „nichts weiter als“ eine Maschine, für Helvetius der Geist „nichts weiter als“ ein Bündel blinder Triebe und Leidenschaften usw. Und Diderot gab dem allen seinen Segen.

Sein intellektuelles Messer war eben doch nur ein Küchenmesser, praktisch fürs Filetschneiden, aber zu kurz, um an die wirklichen Innereien heranzukommen. Auf die Innereien aber kommt es stets an.

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