© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Mehr Gemeinschaft wagen
Die Jugendbewegung hatte großen Einfluß auf die Pädagogik: Kinder sollten als eigenständig wahrgenommen werden
Erik Lehnert

Das Deutsche Reich war am Ende des 19. Jahrhunderts eine aufstrebende Weltmacht, die nicht nur wirtschaftlich erfolgreich und sozial befriedet war, sondern es auch in Kunst und Kultur zu neuer Blüte gebracht hatte. Und dennoch gab es in dieser, von heute betrachtet, heilen Welt ein Bedürfnis nach dem echten, eigentlichen und ursprünglichen Leben. Der Soziologe Georg Simmel hat von einem „Spalt“ innerhalb des „Gefüges der Kultur“ gesprochen, der sich zwischen dem einzelnen Menschen und der ihn umgebenden objektiven Kultur auftut. Das sich einstellende Gefühl war, daß die Dinge den Menschen verbrauchen, anstatt ihm zu dienen. Das führt laut Simmel zu einer „Pathologie der Kultur: das Zurückbleiben der Vervollkommnung der Personen hinter der der Dinge“.

Dieser Krankheit wollte die Lebensreformbewegung entgegentreten. Darunter versteht man eine unzählige Einzelbestrebungen umfassende Gesamtbewegung, welche die Suche von Nietzsches Zarathustra nach einem „Echten, Rechten, Einfachen, Eindeutigen“, einem „Menschen aller Redlichkeit“ in die Tat umsetzen wollte. Die Lebensreform erfaßte am Ende des 19. Jahrhunderts weite Teile des deutschen Bürgertums, sei es als Kleiderreform, Vegetarismus, Jugendbewegung, völkische oder religiöse Erneuerung. Immer ging es darum, den Menschen von den Auswüchsen der Industrie- und Massenkultur zu befreien und ihn zu einer angemessenen Lebensweise zu führen. Nicht zuletzt deshalb verbanden sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zahlreiche Hoffnungen, weil man mit dem Westen die rationalistische Zivilisation zu bekämpfen meinte.

Doch Jugendbewegung und Reformpädagogik hatten ganz andere Ziele, als das, die Jugend auf die Schlachtfelder Europas zu führen. Beide waren Ausdruck eines neues Verständnisses von Jugend und Kindheit, dem die schwedische Schriftstellerin Ellen Key mit ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ (1900) ein Schlagwort geliefert hatte. Kindheit und Jugend sollten nicht mehr als notwendiges Übel auf dem Weg zum Erwachsensein und Berufsleben verstanden werden, sondern als eine Lebensphase, von der alles andere abhängt. Die Betonung des Eigenwertes des Jugendalters schwankte dabei zwischen rousseauistisch angehauchten Vorstellungen vom reinen Kind und den schädlichen Einflüssen der Erwachsenen sowie der platonisch inspirierten Idee der geistigen Führerschaft durch Erwachsene. Dabei war immer klar, daß weder Reformpädagogik noch Jugendbewegung Haltlosigkeit kultivieren sollte. Man wollte aber der Bevormundung und Vereinzelung entfliehen und forderte echte Autorität ein, weil die Überzeugung verbindend war, daß Jugend Führung und Gemeinschaft braucht.

Die Jugendbewegung stellte sich dabei ganz bewußt gegen die Praxis der Jugendpflegepolitik, die Jugend als etwas von außen Formbares betrachtete und den Auswüchsen auf diese Art begegnen wollte. Vom Urwandelvogel (1901) bis zum Treffen auf dem Hohen Meißner und darüber hinaus war dagegen das Prinzip der jugendbewegten Selbsterziehung bestimmend, die vor allem von dem Erlebnis der Gemeinschaft und der Selbstbeschränkung bestimmt war. Dieser Impuls stand in enger Wechselbeziehung zur Reformpädagogik, die versuchte, diese Prinzipien auf die Schule anzuwenden.

Die enge Beziehung zwischen Jugendbewegung und Reformpädagogik wird nicht zuletzt daran ablesbar, daß ihre wichtigsten Protagonisten in irgendeiner Weise am Treffen auf dem Hohen Meißner beteiligt waren. Das trifft sowohl auf die Vertreter der klassischen Reformpädagogik Georg Kerschensteiner und Ludwig Gurlitt als auch die jüngere Generation von Pädogogen, Hermann Lietz und Gustav Wyneken zu.

Von letzterem stammt die berühmte Meißner-Formel, die nicht zuletzt auch ein Erziehungskonzept zum Ausdruck brachte, das Hermann Lietz mit der Gründung des ersten deutschen Landerziehungsheimes in der Nähe von Ilsenburg im Harz (1898) in die Tat umsetzen wollte. Gustav Wyneken wiederum war der erste Leiter dieser Einrichtung. Die Landerziehungsheimbewegung war der erfolgreichste Ausdruck der reformpädagogischen Bestrebungen in Deutschland. Lietz gründete bis zum Weltkrieg fünf dieser Schulen, weitere Gründungen erfolgten durch ehemalige Lietz-Lehrer. Bis heute existieren die Landschulheime in Haubinda, Bieberstein, Hohenwehrda und auf Spiekeroog (das Ernst Jüngers ältester Sohn besuchte).

Das pädagogische Konzept der Landerziehungsheime beruhte auf der Idee, daß eigentliche Erziehung nur im Einklang mit der Natur und in großer Entfernung zur Großstadt möglich ist. Hinzu kommen der gelebte Gemeinschaftsgedanke und der hohe Anspruch an die Lehrer, gleichzeitig Unterrichtender, Führer und Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Das setzt Persönlichkeiten voraus, die dieser Stellung gewachsen sind.

Daß die Reformschulen, wie die Odenwaldschule (1910 von Paul Geheeb gegründet), ins Gerede gekommen sind, hat nicht zuletzt mit diesem Anspruch zu tun: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Jede Idee kann in ihr Gegenteil verkehrt werden, so auch das der Jugendbewegung, wenn man daraus ein ewiges Jungsein macht, das Verantwortung scheut. Die Vervollkommnung der Person bleibt als Anspruch aber lebendig, und es ist das Verdienst der Reformbewegung, nicht bei der Theorie stehengeblieben zu sein.

 

Jugendbewegung

Allgemein gilt die Gründung des Wandervogel genannten „Ausschusses für Schülerfahrten“ im November 1901 als Ausgangspunkt der Jugendbewegung. Der Name Wandervogel war eine romantische Anspielung auf die Zugvögel. Angelehnt an die „fahrenden Scholaren“ des Mittelalters strebten die meist bürgerlichen Jugendlichen hinaus in die Natur und propagierten ein einfaches, wahrhaftiges Leben, das sich von allem „modernen Tand“ fernhielt. Stil und Kleidung waren rustikal, man kopierte alte Trachten, spielte Klampfe und übernachtete in Zelten. Den großen Einschnitt brachte der Erste Weltkrieg, in dem von geschätzt 12.000 Wandervögeln etwa 7.000 fielen. Nach 1918 wich die Bedeutung des Wandervogels zugunsten der „Bündischen Jugend“.

www.wandervogel.de

www.buendischejugend.de

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