© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

„… als sei ich nicht der Mörder“
Schreibender Strafverteidiger: Ferdinand von Schirach hat einen hinreißenden Roman vorgelegt
Thorsten Thaler

Wer von dem neuen Roman Ferdinand von Schirachs sprechen will, darf zunächst von seinen Kritikern nicht schweigen. In einer der jüngsten Rezensionen, vor wenigen Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen, schreibt die Autorin Anna Prizkau, Schirach interessiere sich nicht für seine Romanfiguren, seine Sprache leide an „allen denkbaren, bekannten Klischees“.

Noch schärfer urteilt Ulrich Greiner, Literaturkritiker der Zeit. Von ihm stammt eine der ersten Besprechungen des Schirach-Romans „Tabu“. Greiner leitet sie gleich im ersten Satz mit dem Bekenntnis ein, er habe den Roman „nicht verstanden, selbst nach zweimaliger Lektüre nicht“. In diesem Stil geht es weiter. Das Buch sei „schlecht“, die aneinandergereihten Hauptsätze „schlicht“. Dann packt der Kritiker den Vorschlaghammer aus: „Ferdinand von Schirach kann nicht schreiben.“ Das ist deutlich. Aber ist es auch richtig?

Nein, das ist es ganz und gar nicht. Greiners Verriß ist auch nicht einfach nur geschmäcklerisch, er ist schlicht grundfalsch. Seine Philippika sagt mehr über ihn selbst und den erbärmlichen Zustand eines Teils der Literaturkritik hierzulande aus, als sie Ferdinand von Schirach und dessen Buch gerecht würde. Der schreibende Strafverteidiger, 1964 in München geborener Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach, kann nicht nur genau und verständlich formulieren, wie seine beiden die Erzählbände „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) mit literarisch verdichteten Kurzgeschichten aus dem Kriminalitäts- und Anwaltsalltag belegen. Von Schirach gelingen auch mit nur wenigen Sätzen vortreffliche Charakterisierungen seiner Romanfiguren.

Wie der Erzähler zum Beispiel sein Alter ego, den Anwalt Konrad Biegler, als grantelnden Pessimisten mit einem Hang zur Misanthropie schildert, das ist hinreißend. Dieser Biegler ist notorisch schlecht gelaunt, wortkarg (außer vor Gericht), Allergiker, ein Stadtmensch, erholungs- und urlaubsscheu. Als er nach einem körperlichen Zusammenbruch auf ärztlichen Rat hin in den Südtiroler Bergen weilt, ist seine Stimmung vollends im Keller. Im Speisesaal des Hotels sitzt er am Tisch eines Lehrerehepaars aus Stuttgart. Die beiden reden sich mit Kosenamen an, der Mann nennt seine Frau „Schätzle“. Sie versuchen, Biegler in ein Gespräch zu ziehen, schwärmen von der herrlichen Aussicht, empfehlen ihm eine Besichtigungstour, fragen, was er denn bisher gesehen habe. Darauf Biegler mürrisch: „Den Friedhof im Dorf. Mir gefallen die Emaillebilder der Toten, sie wirken so lebendig.“ Ferdinand von Schirach braucht für die Beschreibung dieser Szene weniger als zwei Seiten. Muß man als Leser über diesen Biegler mehr wissen, um ihn sich vor seinem inneren Auge vorstellen zu können?

Genauso lakonisch schildert Schirach seinen Hauptprotagonisten, den aus einer alteingesessenen, aber verarmten Adelsfamilie stammenden Sebastian von Eschburg. Die Mutter interessiert sich mehr für ihren Reitsport als für ihn, der Vater ist selten zu Hause. Sebastian leidet unter Synästhesie, er sieht die Dinge mit anderen Farben als „normale“ Menschen. „Seine Haare leuchteten für ihn violett mit einer Spur Ocker, die Haut des Vaters war eine blasse, grünblaue Fläche. Nur seine Mutter hatte keine Farbe. Lange Zeit glaubte Sebastian, sie bestehe aus Wasser, und erst wenn er in ihr Zimmer komme, nehme sie die Gestalt an, die alle kannten.“

Mit acht Jahren darf er zum erstenmal mit seinen Eltern gemeinsam am Tisch essen, zwei Jahre später kommt er auf ein Schweizer Klosterinternat. Eines Tages in seinen Schulferien sitzt Sebastian mit dem Vater in der Bibliothek. Der Junge schläft im Sessel ein, schreckt plötzlich hoch, rennt ins Arbeitszimmer des Vaters, die Schreibtischlampe brennt, neben ihr liegt eine Schachtel mit Schrotpatronen. Der Vater hat sich den Kopf weggeschossen. „Sebastian stand im Zimmer, er konnte sich nicht rühren. Er roch das Pulver, den Whisky, der aus einer umgekippten Flasche auf die Steinplatten tropfte, das Rasierwasser des Vaters. Er sah den Staub auf den Büchern, das Fernrohr aus Messing, die Risse in den Ledersesseln und das silberne Zigarettenetui mit dem großen Stein aus Jade. Dann wurde es zuviel, die Bilder rasten in seinem Kopf, sie überlagerten sich und setzten sich immer wieder neu zusammen, er konnte sie nicht mehr ordnen.“ Geht es schrecklicher? Ferdinand von Schirach kann nicht schreiben? Lachhaft!

Sebastian von Eschburg fühlt sich seit seinen traumatischen Kindheitserlebnissen fremd in der Welt. Nach dem Abitur geht er in eine Fotografenlehre, rasch wird aus ihm ein erfolgreicher Künstler, seine (zum Teil pornographischen) Bildinstallationen verkaufen sich prächtig. Er lernt eine PR-Frau kennen, die ihn liebt, aber nicht versteht, und eine undurchsichtige Nachbarin aus der Ukraine. Diese junge Frau wird eines Nachts überfallen, Sebastian hilft ihr, wird dabei selbst schwer verletzt, wacht im Krankenhaus wieder auf. Dann ist plötzlich von einem Mord die Rede. Sebastian soll der Täter sein, er kommt in Untersuchungshaft. Aber wer ist das Opfer?

Sebastian wird verhört. Er soll auspacken, ob das verschwundene Mädchen noch lebt und wo sie ist. Der Polizist droht Sebastian Folter an. „Später wird dir niemand glauben, was passiert ist. Du wirst keine Verletzungen haben, keine Narben, du wirst nicht bluten, alles passiert in deinem Gehirn. (…) Was ich mit dir mache, hält niemand länger als dreißig Sekunden aus, die meisten geben schon nach drei oder vier Sekunden auf.“ Sebastian legt ein Geständnis ab. Aber was gesteht er? Und ist es die Wahrheit? Oder entspricht es wenigstens der Wirklichkeit? Ist sein Geständnis vor Gericht verwertbar? Ist Sebastian wirklich ein Täter? Was ist Schuld? Vor dem Leser türmt sich ein Gebirge an offenen Fragen auf.

An dieser Stelle nun tritt der Strafverteidiger Konrad Biegler auf den Plan. Er übernimmt, zunächst widerstrebend, den Fall des Sebastian von Eschburg. „Ich möchte, daß Sie mich so verteidigen, als sei ich nicht der Mörder“, bittet er den Anwalt. Was folgt, ist die eine oder andere Wendung im Handlungsfortgang sowie eine Lehrstunde in deutscher Rechtswirklichkeit. Hier ist Ferdinand von Schirach ganz bei sich, Strafverteidigung ist sein Metier. Daß er die Schriftstellerei ebenso beherrscht, davon kündet dieser wundervolle Roman.

Ferdinand von Schirach: Tabu. Roman. Piper Verlag, München 2013, gebunden, 254 Seiten, 17,99 Euro

Foto: Anwalt und Autor Ferdinand von Schirach in Berlin: Eine Lehrstunde in deutscher Rechtswirklichkeit

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