© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Gefangen im endlos leeren Alltagsnichts
Die große Huren-Beschwörung: Clemens Meyers Roman „Im Stein“ strebt ins Herz kapitalistischer Finsternis, kommt aber nicht an / Feldstudien in Bordell-Landschaften
Ulrich Schmid

Der Leipziger Clemens Meyer, eine belletristische Nachwuchshoffnung des Jahrgangs 1977, legt in diesem Bücherherbst seinen zweiten Roman vor. Hinter dem kryptischen Titel „Im Stein“ verbirgt sich ein Text, den die Kritikergilde sofort mit der Banderole „Roman aus dem Rotlichtmilieu“ ans Lesepublikum durchreichte. Wer darunter indes eine herkömmliche „Geschichte“ mit Handlung und Hauptpersonen versteht, sollte sich anderweitig umtun.

Hält die Etikettierung „Roman“ nicht, was sie vielen verspricht, sticht hingegen das in Aussicht gestellt „Rotlicht“ schon beim flüchtigen Blättern grell ins Auge und bedient mit zahllosen „einschlägigen Stellen“ lüsterne Erwartungen reichlich. Eine Kostprobe: „Ich bin die gute geile Mutter unter dem jungen Volk. Ich blase ohne, wenn das Geld stimmt, und ich erwarte dich in Leder, wenn du das willst. Meine Löcher sind offen für dich. (…) Du zahlst hundertzwanzig die Stunde, all inklusive. Und fünfzig für den Quickie, wenn ich an der Wand stehe.“

Das ist – ausgewählt wurde eine eher blutdruckschonende Passage – Pornographie ohne Bilder, die zu Vladimir Nabokovs „Lolita“-Zeiten unverzüglich den Staatsanwalt auf den Plan gerufen hätte. Heute gähnt das junge Gemüse über derartig altbackene GV-Prosa, weil es spätestens zum 12. Geburtstag bei YouPorn einsteigt. Im Vergleich zu diesen, unsern keineswegs unschuldigen Kleinsten war selbst Sasha Grey, Jahrgang 1988, „das schmutzigste Mädchen der Welt“, reichlich spät dran, als sie dort 2004 ihre ersten Fellatio-Clips schaute, die sie zum Mitmachen und Spaßhaben animierten, bis sie sich, eine von zahllosen US-Porno-„Queens“, 250 Hardcore-Filme danach, als mehrfache „Adult Video News“-Preisträgerin für die beste Gruppensex-, Anal- und Oralsex-Szene der unverlierbaren Gunst ihrer onanierenden Zuschauer sicher sein durfte (Welt am Sonntag vom 29. September).

Die marktbeherrschende Stellung der Onanier-Maschinen des Internet, jene Treibriemen der Porno-Globalisierung Made in California, gibt Meyer keine Chance, sich als Tabubrecher, Grenzüberschreiter oder Skandalautor zu inszenieren. Vielmehr lassen sie seine große Huren-Beschwörung rührend deutsch-provinziell aussehen, so daß allenfalls höhere Töchter wie die ehrpusselige Felicitas von Lovenberg, die im FAZ-Feuilleton die „Schöne Literatur“ sortiert, in hymnische Begeisterung über dessen „gewaltiges Epos“ ausbrechen.

Von Lovenberg & Co. kriegen sich auch nicht mehr ein, wenn es gilt, Meyers „sinnensatter Sprache“ zu huldigen. Kein Wunder, denn wie Klein-Meyer saßen seine Adoranten 1979 noch auf dem Topf als Arno Schmidt starb. Dessen poetischer Kosmos fand daher keinen Platz mehr in ihrem Lektürekanon. Er fehlt ihnen als Maßstab. Folglich merkt niemand: Es ist hierzulande seit langem Pustekuchen in Sachen Sprachmacht, es wird nicht einmal das anerkennenswerte Niveau von Günter Grassens „Blechtrommel“ erklommen.

Soviel zur ästhetischen Klassifizierung von Meyers Opus, das den seit James Joyce etablierten „inneren Monolog“ zum Stilprinzip erhebt und damit die branchenüblichen Assoziationen freisetzt, die von Céline und Genet, von Hans Henny Jahnn bis hinunter zu Hilbig, Houellebecq oder dem bundesdeutschen Westentaschen-Bukowski Jörg Fauser reichen. Den Leser erwartet mithin sprachlicher Sondermüll, der sich anstaut aus den Bewußtseinsströmen von Nutten, Zuhältern, Freiern, Investoren in die „Aktie Fick“ und den obligaten Ordnungshütern, die sich vor Dienstantritt mit ihrer fülligen Stammhure vergnügen.

Ästhetisch mithin nur konventionell, garantiert humorfrei und alles andere als ein Lesevergnügen, bliebe einzig noch Meyers aufdringlich kommunizierter Anspruch zu verhandeln, einen, wenn nicht den Gesellschaftsroman unserer Zeit vorgelegt zu haben. Der Autor pocht dabei auf seine fünfzehn Jahre Lebenszeit, die ihn die Feldstudien in den blühenden Bordell-Landschaften von Leipzig, Halle, Berlin und Frankfurt/Oder gekostet hätten. Beinahe 100 „Sexarbeiterinnen“ habe er befragt, vor allem aber die sozialwissenschaftliche Literatur zu dieser Schattenwirtschaft studiert, die in Deutschland, wie er lakonisch rapportiert, offiziell von 400.000, tatsächlich aber wohl von einer Million Frauen in Schwung gehalten wird, die alljährlich imponierende zehn Milliarden Euro umsetzen.

Seit dem Prostitutionsgesetz von 2001 verdient der Staat sogar kräftig mit, obwohl ihm der größere Batzen infolge einer zugestandenen Schwarzarbeitspauschale weiterhin durch die Lappen geht. Zyniker glauben, daß diese Steuereinnahmen die schwindelerregende Konjunktur der Gender-Lehrstühle anheizen, deren „Inhaber*innen“ sich als überaus dankbar erweisen, indem sie „wissenschaftlich“ untermauern, daß gegen Prostitution und Pornogewerbe feministisch nichts einzuwenden sei, solange alles „selbstbestimmt und lustvoll“ ablaufe.

So greift ein Rädchen ins andere. Aber erst solche Kombinationen fernab des Textes führen dorthin, wo Meyer sein naturalistisches Fresko am liebsten sähe: nicht in der schmuddeligen Peripherie, sondern in der „Mitte der Gesellschaft“. Ohne seine in Interviews nachgeschossenen, freilich immer noch unpräzisen Selbstdeutungen – denn der hier seltsam diskret formulierende Jung-Autor meint ja die „kapitalistische Gesellschaft“ – stünde der Leser indes vor einem ausgeschütteten Zettelkasten.

Im Herzen der Finsternis zündet Meyer keine Kerze an. Zwar spielt im Kopfkino sämtlicher Figuren stets der „Profit“ die Hauptrolle, aber niemanden – auch seinen durch Wohnungsprostitution schwerreich gewordenen Immobilienhai „Arnie“ Kraushaar nicht, der sich mit der einstigen Börsengott Josef Ackermann vergleicht und sich systemlogisch korrekt als Marktteilnehmer unter Marktteilnehmern versteht – läßt Meyer aus dem Sumpf entfremdeten Daseins entsteigen. Seine Sexarbeiterinnen durchschauen nicht, daß sie Ware sind. So bleibt jeder bei ihm gefangen im endlos leeren Alltagsnichts.

Und wenn sein Roman ein Spiegelbild, kein Zerrbild der Gesellschaft sein soll, wie Meyer unermüdlich versichert, dann herrschen in der Sexindustrie, beim automatisierten „wechselseitigen Besitz der Geschlechtseigenschaften“ (Immanuel Kant) nur unwesentlich brutalere Bedingungen des Warenaustausches als in anderen kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsräumen, in Fabriken und Banken, in Universitäten, in der Ehe wie im Sportstudio. So könnte wohl die „Botschaft“ von „Im Stein“ lauten, aber sie wird künstlerisch nicht umgesetzt, da der von seinem Material erdrückte Autor sowenig souverän agiert wie seine Figuren.

„Kunst soll wehtun.“ Mit diesem Credo grenzt sich Meyer gern gegen gutverkäufliche Wohlfühlerzeugnisse des Kollegen Kehlmann ab. „Im Stein“ tut nicht weh.

Clemens Meyer: Im Stein. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013, gebunden, 560 Seiten, 22,99 Euro

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