© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Dorn im Auge
Christian Dorn

Frankfurter aß ich zum erstenmal in Manhattan, den ersten Hamburger drei Jahre zuvor, Ende September 1989 in Budapest, auf einer Anhöhe des Gellértberges mit Ausblick auf die Stadt. Dabei zog mich ein Ehepaar ins Gespräch, das wie ich aus der DDR kam. Als sei ich der gesuchte Weise, sollte ich für sie entscheiden, ob sie wieder umkehren sollten zu ihren kleinen Kindern oder es doch wagen, in den Westen vorauszugehen. In die Freiheit. Ich weiß nicht mehr, was ich riet – es war ja auch zu absurd. Selbst war ich entschlossen zurückzufahren, weil dort „meine“ Geschichte wartete, die ich nicht verpassen wollte – obwohl das zunächst nur hieß, der Einberufung zur Nationalen Volksarmee Folge zu leisten. So gut funktionierte das Großraumgefängnis DDR, daß für mich die Option der Flucht als irgendwie verantwortungslos ausschied. Ich wollte Teil dieser Geschichte bleiben. Ein Stockholm-Syndrom?

Und heute, spüre ich Kairos außerhalb des arabischen Frühlings? Als Sarrazins Buchveröffentlichung „Deutschland schafft sich ab“ bevorstand, klingelte das Telefon. H. rief an und fragte mich noch vor der Begrüßung: „Sagen Sie, empfinden Sie das gerade auch so?“ Ich verstand sofort, antwortete: „Sie meinen, so ein Bauchgefühl wie im Frühsommer 1989?“ – „Jaa, genau!“ So unglaublich diese parallele Wahrnehumg war, so gründlich irrten wir uns. Im Gegenteil. Seither macht die Abschaffung Deutschlands beachtliche Fortschritte – Geschichte wird gemacht, es geht voran, und die Monarchie erscheint als letzte Rettung im politischen Alltag. Jedenfalls wäre dies, so Modeschöpfer Wolfgang Joop, eine Option für alle Nichtwähler, der schöneren Bilder wegen. Das Wunderkind gibt sich derweil undressed.

Mit Feeling B könnten wir jetzt sagen: Geh doch zurück in dein Buch, erzähl’ mir nichts. Das aber wäre ungerecht. Tatsächlich ist durch eine kultivierte „Spätlese“ viel zu lernen, etwa im „Heerlager der Heiligen“. Ist es Zufall? Das Buch erschien ausgerechnet vor vierzig Jahren – so lange wanderte das Volk Israels durch die Wüste, so lange dauerte die DDR. Am Abend des 3. Oktobers, unserem leblosen Nationalfeiertag, begann die Tagesschau mit dem gesunkenen Flüchtlingsboot vor Lampedusa, das zum 9/11 Europas eminieren wird. Einreiseverbote funktionieren jetzt nur unter der Statue of Liberty. Das Museum für Kommunikation in der Mainmetropole Frankfurt zeigt zwar im kommenden Frühjahr das „Leben in einer überwachten Welt“. Doch keiner baut Bridges to Babylon: Il y a Troja now.

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