© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Fünfprozenthürde
Absenken – es ist an der Zeit
Lazaros Miliopoulos

Mit den Ergebnissen der FDP und der AfD bei der Bundestagswahl von jeweils knapp unter fünf Prozent sowie dem Aufkommen der Piratenpartei und den Freien Wählern erreichte der Anteil der „verfallenen Zweitstimmen“ den horrenden Wert von 15,7 Prozent, was knapp sieben Millionen unberücksichtigten Zweitstimmen entspricht. In einem Land wie Deutschland, das an das Verhältniswahlsystem gewöhnt ist, ziehen solche Zahlen naturgemäß Legitimitätszweifel nach sich, welche – und das ist das Problem – die positiven Effekte einer Sperrklausel unterhöhlen könnten. Es muß zwar nicht gleich um die Frage gehen, wie „undemokratisch“ die Sperrklausel ist – es reicht völlig aus, danach zu fragen, wie sie einzurichten wäre, damit sie auf bestmögliche Weise „funktioniert“. Und ihre legitime Funktion besteht darin, eine Zersplitterung und extreme Polarisierung des Parlaments zu verhindern. Doch diese Funktion wird gefährdet, je höher die Legitimitätsverluste sind, die sie produziert, abhängig davon, wie sie im Verhältnis steht zu den „aktuellen Verhältnissen“.

Angesichts der Tatsache, daß nach dem Wahlerfolg der NPD 1969 (4,3 Prozent) seit nunmehr über dreißig Jahren keine Partei außer den Grünen auch nur annähernd Wahlergebnisse über drei Prozent erreichen konnte und – retrospektiv betrachtet – ein veritabler Zersplitterungseffekt insgesamt ohnehin erst bei einem Wert weit unter 2,5 Prozent eingetreten wäre, kann nun mit Recht behauptet werden, daß die Sperrklausel in Deutschland – rein funktional betrachtet – ziemlich hoch liegt. Dies gilt um so mehr, als daß in den konsolidierten Demokratien Westeuropas auf nationaler Ebene (also nicht auf Wahlkreisebene) Werte zwischen zwei und vier Prozent anzutreffen sind, ohne daß die Funktionsfähigkeit der entsprechenden Parlamente darunter unverhältnismäßig leidet.

Deutschland mit einem Wert von fünf Prozent indes steht in einer Reihe mit jungen mittel- und osteuropäischen Repräsentativdemokratien, die sich anno 1990 aus ähnlichen Erwägungen wie in Deutschland anno 1953 (wehrhafte Demokratie, funktionsfähiges Parlament, totalitäre Erfahrung) für eine relativ hohe Hürde entschieden haben.

Doch gilt es, im Unterschied zu den östlichen Nachbarn zu bedenken, daß eine Konzentrationsphase des deutschen Parteiensystems bereits lange abgeschlossen ist: Zunächst konsolidierte sich das System zwischen 1953 und 1965 und – nach dem zwischenzeitlichen Höhenflug der NPD 1969 – zwischen 1972 und 1980. Der Anteil der „verfallenen Zweitstimmen“ aufgrund der Wahl von Kleinparteien lag von 1972 bis 1987 durchgängig unter 1,5 Prozent. Nach der besagten Konzentrationsphase schaffte mit den Grünen 1983 – dreißig Jahre nach dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) – eine einzige Partei den Sprung über die Fünfprozenthürde.

Erst mit dem Aufkommen der „Republikaner“ und einem weiteren Fragmentierungsschub des deutschen Parteiensystems im Gefolge der deutschen Einheit stieg der Anteil der „verfallenen Zweitstimmen“ 1990 schlagartig auf über acht Prozent an und pendelte sich dann von 1994 bis 2009 auf einen Wert zwischen 3,5 und sieben Prozent ein. Auf diesem Niveau hätte – mit zunehmender Pluralisierung des Systems – das Problem bereits erkannt werden können, vor dem man heute steht.

Freilich sind kleinere Parteien auch in vielen westeuropäischen Ländern mit niedrigeren Sperrklauseln benachteiligt, sobald die Mandatsverteilung nicht wie in Deutschland vor allem über ein nationales Zweitstimmenergebnis, sondern (zum Teil zusätzlich) über Mehrpersonenwahlkreise mit jeweils wenig zu vergebenden Mandaten und ohne Ausgleichmandate errechnet wird. Dennoch sind die Chancen kleinerer Parteien dort viel höher, da sich Sperrwirkungen nur auf Wahlkreisebene entfalten, die viel einfacher zu überwinden sind als in Deutschland, wo sich die Sperrklausel auf das ganze Land bezieht – zumal das Land auch noch das größte in Europa ist. Daran ändert auch die sogenannte Grundmandatsklausel wenig: denn es macht einen gewichtigen Unterschied, ob drei Einer-Wahlkreise gewonnen werden müssen oder ob man Mandate über mehrere Mehrpersonenwahlkreise gleichsam „sammeln“ kann.

Da es bei den jüngsten Bundestagswahlen zudem zwei Mitte-Rechts-Parteien waren, die den Bundestagseinzug knapp verfehlt haben, ergibt sich in politischer Hinsicht zusätzlich das hochbedenkliche Bild, daß die Wähler in Deutschland deutlich konservativer und marktliberaler orientiert sind als dies jetzt im Deutschen Bundestag abgebildet wird. Es wird also Zeit, die Hürde – zumindest auf der Bundesebene – abzusenken. Im Falle Deutschlands wäre – im Lichte komparativer und historischer Argumente – eine vorsichtige Absenkung auf vier Prozent zu empfehlen.

 

Dr. Lazaros Milio­poulos, Jahrgang 1976, ist Politikwissenschaftler am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

 

Nach der jüngsten Bundestagswahl ist eine Debatte über die Sinnhaftigkeit der – im europäischen Vergleich – hohen deutschen Sperrklausel entbrannt. Fast sieben Millionen abgegebene Stimmen blieben unberücksichtigt. Nicht etwa, weil diese auf unzählige Splitterparteien verstreut wurden, sondern weil mit der FDP und der AfD zwei politische Parteien nur knapp unter der Hürde blieben. Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim nannte deren Wähler „doppelte Verlierer“. Nicht nur, daß deren Parteien nicht in den Bundestag gelangten, sondern es vergrößerte sich dadurch auch noch die Macht der Parteien, die durchkamen. Die Gleichheit jeder Wählerstimme ist also nicht mehr gewährleistet. Ist das im Sinne des Grundgesetzes? Die hohe Hürde nötigt zudem viele Wähler, etwas anderes zu wählen, als sie eigentlich wollen, um ihre Stimme nicht zu verschenken.

2011 kippte das Bundesverfassungsgericht die Hürde von fünf Prozent für kommende Europawahlen und mahnte an, die Höhe von Sperrklauseln zu überprüfen, wenn sich die politischen Gegebenheiten veränderten. Vor dem Hintergrund eines durch und durch stabilen parlamentarischen Systems halten viele den Zeitpunkt dafür nun für gekommen.

In diesem Pro & Contra der JF-Debatte beziehen die Politikwissenschaftler Lazaros Miliopoulos (Bonn) und Werner Patzelt (Dresden) Stellung. (JF)

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