© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Ein schwarzer Schatten in der Widerstandsgeschichte
Reinhold Wulle war Reaktionär, Monarchist und Antisemit: Die Ablehnung des NS-Systems brachte diesen Dissidenten von rechts ins Konzentrationslager
Gerhard Meyer

Die Beschäftigung mit Reinhold Wulle gleicht einer Zeitreise durch die äußerste politische Rechte vom Kaiserreich bis hin zu den ersten Gründungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit Wulle stößt man in ein unbekanntes Zentrum des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus vor, das durch seine personelle und aktivistische Vielfalt überrascht. Reinhold Wulle wurde am 1. August 1882 als Sohn eines Pfarrers in Falkenberg/Pommern geboren. Ohne abgeschlossenes Studium wurde er journalistisch tätig. Am Ersten Weltkrieg nahm er aufgrund seiner unfallbedingten Gehbehinderung nicht teil.

Nach Gründung der Deutschnationalen Volkspartei dachte Wulle zunächst, dort eine politische Heimat gefunden zu haben. Die Deutschnationalen suchten fähige Köpfe aus der jüngeren Generation und stießen auf den für seine gute Rhetorik bekannten Journalisten. Seine Partei, die Deutschvölkische Freiheitspartei (DVFP), wurde am 16. Dezember 1922 in Berlin gegründet und entstand als Abspaltung des völkischen Flügels der Deutschnationalen.

Regional blieb die DVFP auf Nord- und Ostdeutschland beschränkt. Anfang der zwanziger Jahre hatte der Nationalsozialismus dort kaum Anhänger, so daß man von einer regionalen Arbeitsteilung zwischen NSDAP und DVFP ausging. Wulles Parteikarriere verlief zunächst bescheiden. 1924 wechselte er vom Reichstag in den Preußischen Landtag. Problematisch gestaltete sich für ihn die Kooperation mit den zeitweise verbotenen Nationalsozialisten.

Auf der „Preußentagung“ Mitte Januar 1925 in Berlin eskalierte der Streit. Die Deutschvölkischen kritisieren Hitlers Ankündigung der Neugründung der NSDAP scharf. Das Bündnis mit den Nationalsozialisten zerbrach. Als Reaktion wurde die Deutschvölkische Freiheitsbewegung (DVFB) als Neuauflage der DVFP gegründet. Die ebenso neuerstandene NSDAP agitierte heftig gegen die aus ihrer Sicht bürgerliche Honoratiorenpartei.

Das Ende der DVFB nach der Machtübernahme Hitlers wurde von der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen. Einzig ein Funktionär protestierte noch gegen die Umbennenung des Nürnberger Hauptmarkts in Adolf-Hitler-Platz. Am 14. März 1934 ordnete das Geheime Staatspolizeiamt die Auflösung der Partei an. Nach Liquidierung der Deutschvölkischen als Partei duldete das Regime die von Wulle betriebene Überführung früherer Mitglieder in die „Gesellschaft für Deutsche Freiheit“, dies allerdings mit der Maßgabe, daß man sich auf die satzungsgemäßen Ziele, nämlich die Verbreitung völkischen Gedankengutes im Ausland bzw. unter Auslandsdeutschen, zu beschränken habe. Die etwa zweimonatliche Herausgabe eines Informationsbriefes diente der Festigung des Kreises.

In der Augsburger Straße in Berlin trafen sich Männer wie der evangelische Theologe Hellmut von Schweinitz, der Indienforscher Freiherr von Veltheim-Ostrau, der Historiker Heinrich Wolf, der katholische Agrarier Baron von Oer, der weißrussische General Basil W. Homoltoff sowie Jesco von Puttkamer-Nippoglense, Kontaktmann zu dem Kreis um Ewald von Kleist-Schmentzin. General von Dommes, Generalbevollmächtigter des preußischen Königshauses, gehörte neben dem Kronprinzen zu den häufigen Gesprächspartnern Wulles. Für die Nationalsozialisten ein Sammelsurium der „Reaktion“.

Am 14. Juli 1938 wurden Wulle und ein Teil seiner Mitarbeiter verhaftet. Josef Goebbels notierte in sein Tagebuch, daß gegen einen „Monarchistenklüngel“ vorgegangen wurde. Darunter „unser alter Reinhold Wulle“. „Die Katze läßt das Mausen nicht“, kommentierte er und spielte dabei auf die alte Gegnerschaft an. Fast mitleidig prophezeite Goebbels den „Jungens“ hohe Haftstrafen. Reinhold Wulle wurde am 23. Dezember 1939 nach einer siebzehnmonatigen Untersuchungs- und Einzelhaft zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Nach der Entlassung aus dem Gefängnis am 14. Juli 1942 wurde er von der Gestapo verhaftet und ohne Urteil in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin eingeliefert, wo er zweieinhalb Jahre zubringen sollte. Ein SS-Lagerarzt und früherer Anhänger Wulles soll den vormaligen völkischen Führer erkannt und ihn zum Lazarettgehilfen gemacht haben. Unstreitig ist, daß er im Lager als prominenter Häftling ein privilegiertes Leben führte. Bei einem Teil seiner Mithäftlinge stand Wulle im Verdacht, bei seiner Entlassung 1942 der Gestapo Hinweise auf den kommunistischen Widerstand in Sachsenhausen gegeben zu haben, in deren Folge führende Kommunisten in andere Konzentrationslager verlegt wurden.

Sein Versuch, nach 1945 parteipolitisch Fuß zu fassen, scheiterte am Veto der Besatzungsmacht. Er mußte sich bis zu seinem Tod auf die Herausgabe eines außenpolitisch gefärbten Rundbriefes beschränken. Verstorben ist er am 16. Juli 1950. Unter Anteilnahme seiner Anhängerschaft, wie auch des Prinzen Oskar von Preußen, wurde Reinhold Wulle beerdigt. Kronprinz Wilhelm und Prinz Louis Ferdinand hatten Beileidstelegramme geschickt. Wulles Rolle im Widerstand gegen das NS-Regime wurde später nicht gewürdigt. Ein völkischer Monarchist, der im Berlin der zwanziger Jahre zu den bekanntesten antisemitischen Agitatoren gehörte, läßt sich auch nur schwer in das nach 1945 vermittelte Bild des Widerstandes gegen Hitler einordnen.

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