© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/13 / 11. Oktober 2013

Im Spiegel Goethes sich selbst verstehen
Prägnant und mit sprachlicher Klarheit bereitet der Philosoph Rüdiger Safranski den Großliteraten Goethe mundgerecht für den neugierigen „Bologna“-Deutschen auf
Felix Dirsch

Bald nach dem Erscheinen von Rüdiger Safranskis neuem Opus magnum kolportierte man, der Autor habe festgestellt, es gebe viele Goethe-Biographien, nur keine von ihm. Dieses Bonmot, das zum Schmunzeln anregen soll, besitzt jedenfalls wahren Kern. Bei einem seit weit über zwei Jahrhunderten bis in alle Details erforschten Literaten wie Goethe stellt sich die Frage, welchen Nutzen ein zusätzlicher Traktat haben soll, nachdem neben einer längst uferlosen Sekundärliteratur zum Werk auch umfangreiche Wälzer vorliegen, die Goethes Leben penibel Tag für Tag erfassen wollen.

Safranski schreibt für eine zwar gebildete Leserschaft, aber nicht für ein Fachpublikum. Bekanntheit erlangte er mit diversen Biographien über Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Schiller und andere, aber auch mit thematisch angelegten Untersuchungen über das Böse und die Romantik. Diese Veröffentlichungen rezipieren allesamt den Forschungsstand und verzichten nicht auf Anmerkungen, bemühen sich aber ausdrücklich um eine stilistisch ansprechendere Präsentation des Dargelegten, als man sie üblicherweise in Sachbüchern findet.

Der frühere Ko-Moderator der mittlerweile eingestellten ZDF-Sendung „Das philosophische Quartett“ weiß um die besondere Bedeutung von Goethe-Biographien, die über die Zunft der Philologen hinausreichen, für das literarische Gegenwartsleben. Einige seien im Folgenden erwähnt.

Nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten einschlägige Bücher von Richard Friedenthal und dem seinerzeit bedeutendsten Germanisten, dem Schweizer Emil Staiger, für Aufsehen. In den frühen 1980er Jahren wurde die Publikation von Otto Conradys voluminösem Werk über das deutsche Jahrtausendgenie bis in die Feuilletons hinein intensiv debattiert. Um 2000 versuchte der Brite Nicholas Boyle sein Glück, als er zwei Bände über den wohl berühmtesten deutschen Klassiker vorlegte. Der abschließende Teil fehlt bisher.

In diese Traditionslinie will sich Safranski einreihen. Sein Text ist, wie nicht anders erwartet, verständlicher als der mancher der erwähnten Vorläufer. Schon in den einleitenden Bemerkungen erläutert der Verfasser sein „erkenntnisleitendes Interesse“: Er möchte den Schriftsteller und Meister des Lebens, den Lebenskünstler im anspruchsvollsten Sinn des Wortes, in einer ausgreifenden Synopse darstellen. Demnach bestehe die Möglichkeit für jede Generation, im Spiegel Goethes sich selbst und die eigene Zeit besser zu verstehen.

Dieser, so erfahren wir, glänzte nicht nur, wie bekannt, durch Rituale, Symbole und Allegorien, mit einer nicht nur unglaublich fundierten Kenntnis der Weltliteratur wie auch zahlreicher Sprachen, sondern legte auch ein anderes Bemühen an den Tag: Das Werk im Sinn des täglich Geleisteten, der Dienst am Gemeinwesen sollte Früchte tragen. Das heißt nichts Geringeres als eine verbesserte Infrastruktur im Straßenwesen wie im Bergbau, amüsantere Theateraufführungen, ein gesunderer Staatshaushalt, nicht zuletzt aufgrund reduzierter Militärausgaben, die Befreiung der Bauern von Lasten und vieles mehr. Schon allein die Schaffenskraft in einem solchen fast 83 Jahre umfassenden Leben besticht.

Safranski nähert sich dem Meister vor allem über zahlreiche Quellen, die den in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Lebenslauf erhellen. Die Abfolge der biographischen Darstellung verbleibt im verbindlichen Radius der Forschung: die frühen Frankfurter Jahre ebenso wie die Leipziger, Straßburger und Wetzlarer Zeit, schließlich die bis zum Lebensende andauernde Tätigkeit in Weimar. Ausführlich werden die gemeinsamen literarischen Unternehmungen mit Schiller geschildert, die man bekanntlich als „Weimarer Klassik“ bezeichnet.

Herausragend in diesem Kontext sind die Beiträge der beiden Geistesgrößen in der nach relativ kurzer Zeit sang- und klanglos eingegangenen Zeitschrift Die Horen, die heute in der Forschung einen hohen Stellenwert einnimmt. Konsensfähig ist auch die Erklärung des – wie auch immer indirekten – Zusammenhanges zwischen der Französischen Revolution und der Blütezeit des deutschen Geistes um 1800. Safranski betrachtet die Kunst als Garant von „Orientierung und Festigkeit“, die besonders in Umbruchsperioden wie in der des französischen Großereignisses und ihren vielfältigen Folgen übergroße Bedeutung erhalten.

Auch der Analyse des Spätwerkes wird angemessener Raum eingeräumt. Dazu zählt an erster Stelle der Faust-Roman. Der Verfasser exponiert Faust als einen „erfahrungshungrigen Grenzüberschreiter auf horizontaler Ebene“. Es folgen die für Goethe ambivalenten Alterswahrnehmungen und -erfahrungen. Dem Gefallen an der Dynamik der langsam einsetzenden Industrialisierung steht die Skepsis vor dem „Aufstand der Massen“ (Ortega y Gasset) und den Umwälzungen des Maschinenzeitalters gegenüber. Weder konnte Goethe mit der Literatur der fortgeschrittenen Jahre etwas anfangen, noch die meisten Dichter der Romantik etwas mit ihm. Safranski schließt mit dem Hinweis, Goethe habe seine Lebensaufgabe erfüllt, indem er immer danach trachtete, zu werden, der man sei.

Safranskis neues Unternehmen ist als gelungen zu bezeichnen, er präsentiert einen aktuellen Goethe, aus dessen nicht versiegendem Fundus auch der heutige Zeitgenosse schöpfen kann. Jedoch kommt man nicht umhin festzustellen, daß diese Darstellung eher für Interessierte gedacht ist, die sich mit dem „letzten Universalgelehrten“ wenig oder gar nicht beschäftigt haben.

Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Carl Hanser Verlag, München 2013, gebunden, 749 Seiten, 27,90 Euro

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