© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Anstieg der Zahlen ist schier unglaublich
Migrationspolitik: Auch tragische Bootshavarien halten Zehntausende nicht davon ab, nach Europa zu gelangen
Marc Zöllner

Ben Suleiman hat einen recht ungewöhnlichen Job. Vor zwei Jahren noch bekämpften seine Milizen die Truppen Gaddafis im libyschen Bürgerkrieg. Heute leitet der das größte Flüchtlingslager des Landes: den Zoo von Tripolis. Stolz zeigt er den Besuchern die geschaffenen Einrichtungen. In den Gebäuden mit den Raubtierkäfigen gibt es bereits Klimaanlagen, saubere sanitäre Einrichtungen, Schlafsäle. Die Flüchtlinge, so Ben, hätten es bei ihm gut.

Was auch not tut: Nachdem die staatliche Ordnung in Libyen mit dem Sturz Gaddafis zusammengebrochen ist, stehen die Grenzen nach Europa offen für jeden. Das lockt hoffnungsvolle Auswanderer vor allem aus den ärmsten Regionen dieser Welt an. Allein im September wagten über 4.700 Menschen den Sprung via Libyen über das Mittelmeer, so das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Im Herbst zuvor waren es gerade einmal 775.

„Der Anstieg ist schier unglaublich“, erzählt auch Ben. „Es scheint, daß jedes Mal, wenn wir zehn Flüchtlinge abschieben, hundert neue dazustoßen.“ Auch seinem Camp im Zoo von Tripolis werden täglich über 50 neue Einwanderer zugewiesen. Bis zu 17 Menschen müssen sich hier bereits je einen Raum teilen, und eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht.

Zahlen, die eines verdeutlichen: Europas Grenzen erleben derzeit einen noch nie dagewesenen Ansturm an Flüchtlingen. Allein Malta und Italien nahmen laut Schätzung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen bis Oktober dieses Jahres bereits über 32.000 Asylsuchende auf. Im Gesamtzeitraum 2012 betrug deren Anzahl lediglich 10.380 Menschen. Die Vorfälle in Lampedusa scheinen sich mehr und mehr als Belastungsprobe für die gesamteuropäische Grenz- und Einwanderungspolitik zu erweisen.

„Italien und Malta dürfen mit diesem Problem nicht allein gelassen werden“, erklärte der maltesische Premierminister Joseph Muscat kurz nach dem ersten tragischen Unglück während einer Unterredung mit seinem italienischen Amtskollegen Enrico Letta. Beide forderten mehr Unterstützung seitens des europäischen Staatenbundes im Umgang mit den gestrandeten Flüchtlingen.

Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz pflichtete bei. „Wenn Sie 10.000 Flüchtlinge auf einer Insel wie Lampedusa haben, die 6.000 Einwohner zählt, ist das für die Insel eine Katastrophe“, erklärte der Sozialdemokrat Anfang der Woche gegenüber Spiegel Online. „Wenn Sie 10.000 Menschen unter 507 Millionen Europäern in 28 Mitgliedstaaten verteilen, ist das machbar.“

Thesen, denen insbesondere Bundes-innenminister Hans-Peter Friedrich energisch widerspricht. Gemessen an seiner Einwohnerzahl, nehme Deutschland bereits das Vierfache von Italien auf. „Das zeigt, daß die Erzählungen, daß Italien überlastet ist mit Flüchtlingen, nicht stimmen“, so Friedrich.

Auch in Schweden mehrt sich die Kritik an den Forderungen nach einer Umverteilung der in Italien angelandeten Flüchtlinge. Die aus Stockholm stammende EU-Kommissarin für Integrationspolitik, Cecilia Malmström, monierte mit Blick auf den Bürgerkrieg in der Levante, Schweden und Deutschland hätten allein bereits mehr als zwei Drittel aller aus Syrien stammenden Flüchtlinge aufgenommen. „Heute gibt es sechs, sieben Länder, die die gesamte Verantwortung übernehmen, und wir sind 28 Mitgliedstaaten“, bemängelte die Liberaldemokratin.

Doch die Zeit rennt. In einem aktuellen Bericht erwartet UNHCR für das kommende Jahr rund zwei Millionen zusätzliche Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien. Hinzu kommen noch unzählige weitere Asylsuchende, vorrangig aus Afghanistan und Pakistan, deren Fluchtroute zumeist über die recht sichere schmale Landbrücke zwischen Griechenland und der Türkei führt. Über 37.000 illegale Migranten suchten allein im vergangenen Jahr auf diesem Wege ihr Heil in Europa.

Aber auch aus den Ländern des Horns von Afrika, Eritrea, Dschibuti und Somalia, mehren sich die Illegalen an der Küste Libyens. Ihre Reisen sind teils abenteuerlich und kostspielig. Allein die illegale Überfahrt auf den Kuttern lokaler Menschenschmuggler kostet von Bengasi bis Lampedusa bis zu eintausend US-Dollar pro Person. Zu den Gefahren auf hoher See, der Überladung der Schiffe sowie den Unwettern gesellen sich noch jene der Mißhandlung seitens libyscher Krimineller.

„Sie haben uns mit ihren Booten über fünf Stunden verfolgt“, berichtet Aisha, eine 25jährige Libanesin, welche vergangene Woche nach einem der tragischen Unglücke vor Lampedusa von der maltesischen Marine gerettet werden konnte. „Dann haben sie auf uns gezielt und unser Geld, unsere Nieren, unsere Lebern gefordert. Als niemand ihnen etwas gab, haben sie auf uns geschossen und zwei von uns verletzt.“

Mit dem finanziellen sowie logistischen Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex plant die Europäische Union, ihre am Mittelmeer anrainenden Mitgliedsstaaten künftig im Kampf gegen derartige Schlepperbanden, aber auch in der Verhinderung erneuter humanitärer Katastrophen auf hoher See besser zu unterstützen. Wie viele Gelder in den neueren Schwerpunkt der europäischen Grenzkontrolle fließen werden, wird allerdings erst am Rande des nächsten EU-Gipfels Ende Oktober beratschlagt. Bis dahin verstärkt Italien ab dieser Woche im Alleingang die Seeüberwachung mit weiteren Schiffen sowie Flugzeugen.

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