© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Pankraz,
Dionysos und der Weg in die Ekstase

Die Weinlese nähert sich ihrem Höhepunkt, sämtliche Lagen sind faktisch schon betroffen, „Federweißer“ wird ausgeschenkt, in den Weindörfern müssen die Autofahrer aufpassen, daß ihnen kein vollberauschter Dionysos-Jünger unversehens vor die Räder rutscht. Und in Hamburg eröffnet das „Bucerius Kunst Forum“ in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eine Ausstellung über „Dionysos, Rausch und Ekstase“, wie es hierzulande wohl noch keine zweite gegeben hat. Wein, Blut und Samensaft fließen buchstäblich in Strömen, wenn auch nur auf Gemälden und Tongefäßen.

Der Katalog, den man für 29 Euro mit nach Hause nehmen kann, wiegt mehr als zwei Kilo und enthält eine riesige Menge anspruchsvollster Bildreproduktionen zum Thema Dionysos & Co., weiterhin eine Fülle von einschlägigen Zitaten aller möglichen historischen Geistesgrößen sowie hochgelehrte Essays erstklassiger Fachleute von heute, etwa über „Erotische Bilder im Zeichen des Dionysos“ oder „Wein und Weingott in der Literatur seit der Aufklärung“. Allein schon Ausstellung plus Katalog sorgen für eine Art Berauschung ganz ohne alle sonstigen Zutaten.

Beim anschließenden Kater stellt man verwundert fest, daß man trotz der vielen ekstatischen Abenteuer doch einiges gelernt hat, mehr auf jeden Fall als in einem der vielen hochwissenschaftlichen Sex- und Drogenseminare an der naturwissenschaftlichen Fakultät. Mythologische Erzählung, so merkt man, bringt auf diesem Feld offenbar mehr Ertrag als das mit Hilfe von Mikroskop und Pinzette praktizierte Freilegen von Molekularbewegungen.

Jedenfalls setzt die Fokussierung von Rausch und Ekstase auf die Gestalt des Dionysos viele Assoziationen frei, die sich mit der spontanen Lebenserfahrung trefflich in Übereinstimmung bringen lassen. Entfesselter Sex und Drogeneinnahme, Musik und Tanz, wilder Schlachtenlärm und massenhafte „ekstatische“ Begeisterung bein Anhören irgendwelcher Hetzreden – sie gehören, so erfährt man, zusammen, entspringen demselben Antrieb, haben denselben Urheber. Und dieser Urheber heißt immer Dionysos, mag er sich auch noch so oft unter wechselnden Namen verbergen: Bromios, Bacchus, Iakchos, Lyäus.

Er ist, wie die Hamburger Monumentalschau sehr schön belegt, kein „Gott“ im üblichen Sinne, keine Kraft, die den Menschen über das Tier oder über die Natur im ganzen hinaushebt. Die „echten Götter“ der Antike haben Dionysos nie in ihren Kreis aufgenommen, er durfte sich immer nur probeweise auf dem Parnaß sehen lassen, und keine Probe hat er je bestanden, stets wurde er wieder hinausgeschmissen. Andererseits wußte man, daß er trotz (oder eben gerade wegen) seiner Naturhaftigkeit und tierischen Ungezügeltheit „dazugehörte“, daß es ohne ihn nicht ging, daß man ihn brauchte.

Für den jungen Nietzsche war er der einzige Gott, den es wirklich gab – und gleichzeitig Widergott, Widerlegung des Gottesgedankens, wenn auch keineswegs „Teufel“, nichts weniger als die Symbolgestalt des Bösen. Er war eben „nur“ der Erfinder des Weines, ein fröhlicher, lauter und feister Jüngling mit Weinlaub im Haar, dessen Erfindung die Menschen in „Ekstase“ brachte, ihr Innerstes nach außen wendete und sie auf unheimliche Weise „frei“ machte, frei von jederlei Gesetz, Sitte und kultureller Überlieferung.

Stets erscheint er mit großem Gefolge, meistens Frauen, den berüchtigten Bacchantinnen oder Mänaden, die sich immer mal wieder auf Männer, Kinder, Tiere stürzen, um sie zu zerreißen, zu zerstückeln und ihr Blut zu trinken. Er richtet schwerste Verheerungen an, im gleichen Takt aber wird er zum Motor der Kunst und des Schöpfertums überhaupt, liefert nicht nur den Quellgrund aller Inspiration, sondern auch das Feuer, das den Künstler während des Schaffensprozesses warm hält und in Schwung bringt.

Im dionysischen Rausch, so Nietzsche in seinem Jugendwerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“, zerbrechen „alle starren, feindseligen Abgrenzungen, die Not, Willkür oder freche Mode zwischen den Menschen festgesetzt haben“. Der Mensch im Rausch sei nur noch Körper, er verlerne das Gehen und Sprechen und sei so auf dem Wege, „tanzend in die Lüfte emporzufliegen“. Er fühle sich selbst als Gott, er sei nicht nur mehr Künstler, sondern auch Kunstwerk, sein Körper sei Kunstwerk.

Auch die Schau im Bucerius-Forum erweckt den Eindruck, als sei es allein Dionysos, also die Freisetzung schöpferischer Wesenskräfte mittels Wein und Drogen, welche wahre Kunst und Erfindungsreichtum bewirke: so tickt nun einmal der Zeitgeist, und die Hamburger Buci-Leute sind weit davon entfernt, sich ihm zu widersetzen. Kunstwerk und bloßes „Event“ sind für sie ein und dasselbe, und wer rauschhaft über die Stränge schlägt, der sei schon ein Künstler, ja sogar der einzig verbleibende Gott à la Nietzsche, Sieger vor allem über Apollo, den Gott der Form, der Zucht und der Schönheit.

Die überlieferten Dionysos-Erzählungen legen allerdings eine ganz andere Pointe nahe. Demnach habe Dionysos, aus dem Parnaß immer wieder ausgestoßen und auf Erden immer wieder in den kalten, weinlosen Winter geraten, schließlich bei Apollo im delphischen Heiligtum „überwintern“ dürfen, und genau in diesem delphischen Winderurlaub seien die Tragödie, die ernstzunehmende Musik und die Kunst in toto entstanden. Es war ein Konglomerat aus Unten und Oben, Himmel und Erde, Natur und Kultur, das Ende des bloßen Rausches und die Geburt der Schönheit.

Gastgeber und Gast befruchteten sich gegenseitig. Diogenes war der Energiespender, er lieferte die Lava, die der Formwille des Apollo durchdrang und in erquickliche Bahnen lenkte. Das Dionysische hatte das Apollinische nicht besiegt, wie der junge Nietzsche dekretierte, sondern beide hatten sich zusammengetan, um Träume in göttliche Wirklichkeit zu verwandeln. Bei solch heiklem Geschäft gibt es weder Sieger noch Besiegte, nur Arbeiter im Weingarten.

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