© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/13 / 18. Oktober 2013

Der Wille zur Revolte
„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“: Vor zweihundert Jahren wurde der Dichter und Revolutionär Georg Büchner geboren / Seine Aktualität ist bis heute ungebrochen
Thorsten Hinz

Sternstunden der Menschheit“ nannte Stefan Zweig die historischen Momente, in denen der Fluß der Zeit zu rasen beginnt, und das Auftauchen des Genies aus der Masse: „Entsteht aber in der Kunst ein Genius, so überdauert er die Zeiten; ereignet sich eine solche Weltstunde, so schafft sie Entscheidung für Jahrzehnte und Jahrhunderte. Wie in der Spitze eines Blitzableiters die Elektrizität der ganzen Atmosphäre, ist dann eine unermeßliche Fülle von Geschehnissen zusammengedrängt in die engste Spanne von Zeit.“

Der Dichter, Naturwissenschaftler und Revolutionär Georg Büchner verkörpert eine Koinzidenz von Genie und Augenblick. Als er im Januar 1837 im Zürcher Exil an Typhus starb, war er nur 23 Jahre alt. Das schmale Werk aber, das er hinterließ, enthält eine solche Fülle von Charakteren, Einsichten, Visionen, Assoziationen und Meisterschaft, daß es bis heute die Theater, Literaturwissenschaft und Publizistik beschäftigt.

Es umfaßt im wesentlichen das Revolutionsdrama „Dantons Tod“, das Sozialdrama „Woyzeck“ und das Lustspiel „Leonce und Lena“. Hinzu kommt die Künstlernovelle „Lenz“ sowie einige Aufsätze, Briefe und Schriften, darunter „Der Hessische Landbote“, der allerdings nur in von fremder Hand redigierter Fassung überliefert ist.

Am Anfang standen der Drang und Wille zur Revolte. Bereits in einem Schulaufsatz würdigte der nahe Darmstadt geborene Arztsohn die Erhabenheit des Menschen „im Kampf mit seinem Schicksale, wenn er es wagt mit kühner Hand in die Speichen des Zeitrades zu greifen, wenn er an die Erreichung seines Zweckes sein Höchstes und sein Alles setzt“.

Als Student in Gießen schloß er sich einer illegalen revolutionären Organisation an. Im „Hessischen Landboten“ listete mit den Mitteln der Statistik die Not der hessischen Bevölkerung auf und prangerte den Anachronismus der Feudalherrschaft an. Die Losung „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ ist in den deutschen Sprachschatz eingegangen. Als Flugschrift verbreitet, sollte der „Landbote“ eine revolutionäre Volkserhebung auslösen. Doch daraus wurde nichts. Das Unternehmen wurde vorab verraten, Verhaftungen folgten, Büchner floh nach Straßburg und später in die Schweiz.

In Straßburg entstand die Novelle „Lenz“, die den psychischen Zusammenbruch des aus Weimar ausgewiesenen Sturm-und-Drang-Dichters schildert. Büchner antizipierte die Erkenntnisse und Möglichkeiten der modernen Psychologie und Philosophie. Lenzens Wahnsinn ist zugleich ein Reflex jenes „gräßlichen Fatalismus’ der Geschichte“, von dem Büchner schon als Zwanzigjähriger in einem Brief an seine Braut schrieb.

Dieser Fatalismus ist das Grundmotiv in „Dantons Tod“. Danton, der wortgewaltige, lebensvolle Revolutionär, der die Massen auf- und angepeitscht hatte und vor Blutvergießen nicht zurückgeschreckt war, hat den Glauben an seine Mission verloren. Die Revolution kann die sozialen Erwartungen der Massen nicht erfüllen. Statt Brot bietet sie nur immer neuen Terror. Von Skrupeln geplagt, bekennt er: „Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an (...).“

Damit gerät er selber ins Visier des Revolutionsausschusses. Seines Lebensinhalts beraubt, nimmt er seine Verhaftung und das Todesurteil fatalistisch hin. Am eigenen Leib erlebt er die grausame Dialektik, die Heiner Müller in dem Stück „Der Auftrag“ auf die Formel brachte: „Die Revolution ist die Maske des Todes. Der Tod ist die Maske der Revolution.“

Sein Widerpart Robespierre wehrt sich gegen solchen Nihilismus im Namen der „Tugend“. Danton stellt seine edlen Motive in Frage und bestreitet sowohl die Tugend als auch das Laster. „Es gibt nur Epikureer“, Genießer also: „Jeder handelt seiner Natur gemäß, er tut, was ihm wohltut.“ Auch der asketische Robespierre ist demnach ein Genießer, der, wenn er im Namen der Tugend Todesurteile unterzeichnet, seine vermeintlich überlegene Moral genießt. Er ist in gewisser Weise die brutale Urform des sanften Gutmenschen von heute.

Heimlich gestattet Robespierre sich ebenfalls Skrupel. Doch auch er steht unter Druck, den der ul-trarevolutionäre Sansculotten-Führer Saint-Just ausübt. Dieser beansprucht für sich, unverfälscht das geschichtliche Prinzip zu exekutieren. Mit dem Terror verbindet er heilsgeschichtliche Erwartungen. In einer Rede vor dem Konvent vergleicht er die Revolution mit den „Töchtern des Pelias: sie zerstückt die Menschheit, um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündflut mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Mal geschaffen.“

Die Büchner-Deutungen sind end- und uferlos. Die einen interpretierten ihn als heldischen Pessimisten, die anderen als Kronzeugen des Sozialismus. In dem Büchner-Roman „Hoffnung hinterm Horizont“ von Hans Jürgen Geerdts, der 1956 in der DDR erschien, nimmt Büchner in einem ahistorischen inneren Monolog seinen Fatalismus zurück. Peter Schneider veröffentlichte 1973 mit der Erzählung „Lenz“ eine eigenwillige Büchner-Adaption. Die Titelfigur ist ein ehemaliger Aktivist der Berliner Studentenbewegung, der enttäuscht nach Italien geht, ausgewiesen wird und ernüchtert statt wahnsinnig zurückkehrt. Volker Braun kommentierte mit Büchner das Ende der DDR: „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen./ KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN“.

Martin Mosebach schlug 2007 in seiner Dankrede zur Verleihung des Büchner-Preises einen Bogen von Saint-Just zu Heinrich Himmler, der in seiner Posener Rede vom Oktober 1943 die Ermordung der Juden zum Vollzug der historischen „Pflicht“ erklärt hatte. Mosebach hätte auch auf den Kommunisten Georg Lukács hinweisen können, der in einem 1937 verfaßten Büchner-Aufsatz die Rede Saint-Justs zur Legitimation des stalinistischen Terrors heranzog: „Mit leidenschaftlichem Pathos“ bejahe und verherrliche sie „die eherne und unmenschliche Notwendigkeit der Geschichte, die ganze Generationen, die ihr im Wege stehen, revolutionär zerstampft“.

Die meisten Interpreten übersehen den Widerhaken, den Büchner in die Ansprache eingefügt hat: Die Töchter des Pelias, die ihren Vater zerschnitten und kochten, um ihn verjüngt wiederauferstehen zu lassen, waren einer Täuschung der rachsüchtigen Medea erlegen. Sie bewirkten das genaue Gegenteil und verübten einen glatten Mord.

Heute kommt der geschichtliche Fatalismus auf den Samtpfoten der Alternativlosigkeit und eines universalistischen Humanitarismus daher. Die Folgen mag man sich nicht ausdenken. Georg Büchner, dieser am 17. Oktober 1813 geborene, alterslose Stern der Literatur, besitzt eine Aktualität, die einen schaudern macht.

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