© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Pankraz,
Dorian Gray und das Paradox als Schlange

Wo bleibt das Paradox?“, wurde Pankraz von einem enttäuschten Freund gefragt, der Pankrazens neues Buch „Freie Rede“ gelesen hatte. In dem Buch geht es unter anderem um die bloßen Launen und Kapriolen, welche die Sprache gleichsam aus purem Übermut hervorbringen kann. Beispiele dafür werden genannt, aber tatsächlich: das Paradox ist nicht darunter, es wird nicht einmal erwähnt. Das war zweifellos ein Fehler, den Pankraz im Folgenden korrigieren möchte.

Er las zu diesem Behufe wieder einmal in dem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde, der ja als Fundgrube wüstester (und geistreichster) Paradoxa bekannt ist. Es erscheint dort der verhängnisvolle Lord Henry, an den sich der naive Jüngling Dorian Gray leidenschaftlich anhängt und dessen Einfluß ihn schließlich ins Verderben führt. Lord Henrys Mund fließt geradezu über von paradoxen Redeweisen, und der Verdacht läßt sich nicht von der Hand weisen, daß es in erster Linie dieses Sprechen in Paradoxen ist, das den armen Dorian auf die schiefe Bahn bringt.

Dabei klingen des Lords Sentenzen durch die Bank recht hübsch. „Ernsthaftigkeit ist die einzige Zuflucht der Oberflächlichen“ – „Ein Sadist ist jemand, der freundlich zu Masochisten ist“ – „Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Kaufleute weiterzuleben“ – „Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung“ – „Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Von jedem nur das Beste.“ Solchen und ähnlichen Aussprüchen sieht man es nicht unbedingt an, daß sie je aufgeweckten jungen Geistern gefährlich werden könnten.

Auch waren die historischen Meister des Paradoxes alle hochmoralische Leute, man denke nur an unseren Lichtenberg oder an Samuel Butler, Lewis Carroll, Eugène Ionesco. Wenn Lichtenberg feststellt: „In St. Petersburg heißt der Gefrierpunkt Schmelzpunkt“, oder wenn er voller Staunen registriert, daß „die Katzen genau dort zwei Löcher im Pelz haben, wo ihre Augen sitzen“, dann gewinnt man den Eindruck, daß sich Paradoxa gar nicht so sehr auf moralische als vielmehr auf wissenschaftliche, ja mathematische Tatbestände beziehen. Und kann es eine moralischere Wissenschaft geben als die Mathematik?

Mathematiker waren es, die die bisher einzige einigermaßen befriedigende Definition des Paradoxes lieferten. Das Wort bedeutet in der wörtlichen Übersetzung: „Das der (allgemeinen) Meinung Widersprechende“. Aber schon der erste Augenschein zeigt, daß das wahre Paradox sich nicht in plumpem Unsinn oder prinzipiellem Dagegensein erfüllt, sondern daß es ein spezielles Sprachspiel mit eigenen Strukturen und eigenem Sinn ist, wie Bertrand Russell zu Recht feststellte.

Nach Russell ist das Paradox gekennzeichnet durch Selbstbezogenheit, Widersprüchlichkeit und Zirkelhaftigkeit. Ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Bitte dieses Hinweisschild nicht beachten!“ ist zwar selbstbezogen und widersprüchlich, zum wahren Paradox jedoch fehlt ihm der Zirkelschluß, wie er im wohl berühmtesten Paradox klassisch zutage tritt, nämlich in dem Satz von Eubulides, dem Schüler Euklids: „Epimenides der Kreter sagt, daß alle Kreter Lügner sind.“ Hier beißt sich die Schlange wirklich in den Schwanz. Wenn Epimenides die Wahrheit sagt, lügt er, und wenn er lügt, sagt er die Wahrheit.

Man unterscheidet übrigens noch eine zweite Form des Paradoxes, bei der an die Stelle von Selbstbezogenheit und Zirkelschluß der Regreß ins Unendliche tritt. In Norman Mailers Kurzgeschichte „Das Notizbuch“ streitet sich der Autor mit seiner Freundin und hat dabei den Einfall zu einer Kurzgeschichte, die von einem Streit zwischen einem Schriftsteller und seiner Freundin handelt, wobei diesem Schriftsteller der Einfall kommt, eine Kurzgeschichte zu schreiben, die von einem Streit zwischen Schriftsteller und Freundin handelt usw. usw. Das ist ein typisches Beispiel für Paradoxa des unendlichen Regresses.

Die Regreß-Paradoxa lieferten einer ganzen Philosophenschule, den Eleaten der Antike, die Argumente für ihre Behauptung, daß keine Bewegung sei. Andererseits lieferten die Zirkel-Paradoxa den „Dialektikern“ Heraklit und Kratylos die Argumente für die Behauptung, daß es „nur“ Bewegung gebe und es deshalb keine greifbare Wahrheit geben könne, man nicht zweimal in denselben Fluß steigen könne. Man sieht: die Paradoxa haben nicht nur ein ehrwürdiges Alter, sondern auch einen ungemein vornehmen Stammbaum. Ohne sie wäre die abendländische Philosophie gar nicht vorstellbar.

Trotzdem muß man sagen, daß ein auf Paradoxa abgestelltes Denken zu Weltfremdheit und Unmoral führt. Weder mit den Eleaten noch mit Heraklit läßt sich praktische Wissenschaft betreiben oder ein Staat aufbauen. Beide verabsolutieren das Überschießende der Sprache, wo sich diese von der Fessel freimacht, bloßes Verständigungsmittel zu sein, und göttliche Purzelbäume zu schlagen anfängt. Das mag Spaß machen, als Lebensdevise taugt es nicht. Indem Lord Henry seinen Zögling Dorian unaufhörlich mit Paradoxen fütterte, löste er ihn aus jeglicher Sozialisation heraus und machte ihn zu jenem Monster, das zum Schrecken der Londoner Gesellschaft wurde.

Das Verdikt bedeutet freilich nicht, daß man sich der Paradoxa gänzlich zu enthalten habe; man sollte nur sparsam mit ihnen umgehen und keine Revolution darauf aufbauen. Ansonsten gilt: Das Leben wäre gewiß sehr langweilig ohne gute Paradoxa. Wie Blitze erhellen sie die geistige Landschaft, und ihr donnernder Witz kann zuzeiten ungeheure Erleichterung verschaffen. Sie reißen die Welt nach oben auf und eröffnen Einblicke in Dimensionen, die uns gemeinhin verschlossen sind.

Nicht von ungefähr galt das archetypische Symbol des Paradoxes, der „Ouroboros“, jene Schlange also, die sich dauernd in den eigenen Schwanz beißt, bei den Alten als Hieroglyphe der Ewigkeit. So ist das Paradox, nach einer paradoxen Wendung von Voltaire, „das Überflüssige, das eine höchst notwendige Sache“ ist.

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