© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/13 / 25. Oktober 2013

Die existentiellen Fragen vermieden
Allen Anspielungen zum Trotz: Daniels Kehlmanns neuer Roman „F" genügt sich selbst
Thorsten Hinz

Erfolgsautor Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) beherrscht sein Handwerk. Auch in seinem neuesten, bei Rowohlt erschienenem Roman „F“ schlägt er den Leser vom ersten Satz an in den Bann: „Jahre später, sie waren längst erwachsen und jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wußte keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.“

Dräuendes, aber auch mutwillig herausgefordertes Schicksal kündigt sich an, ein Spiel mit Identitäten und sinistren Mächten. Die Frage, ob sie von außen kommen oder in der Brust der Protagonisten lauern – was das Problem der Willensfreiheit evoziert –, läßt der zweite Satz noch offen: „Es war das Jahr 1984, und Arthur hatte keinen Beruf.“ Perfekt, wie Kehlmann die Anspielung an George Orwell sogleich durch die Charakterisierung des modernen Taugenichts ironisch bricht.

Arthur Friedland, ein antriebs- und erfolgloser Schriftsteller, hat drei Söhne: die eineiigen Zwillinge Erich und Iwan sowie Martin, ihren Halbbruder. Die Konstellation erinnert an „Die Brüder Karamasow“, aber auch an König Arthus und seine Ritter Erec und Iwein. Und Martin heißt jener Heilige, der sich vergeblich im Gänsestall versteckte, um der Ernennung zum Bischof zu entgehen.

Der Besuch im Kabinett des Hypnotiseurs Lindemann greift natürlich die Szene aus Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ auf, wo der schiefgewachsene Cipolla den jungen Mario verhöhnt, indem er dessen Verliebtheit ans Licht zerrt und sich ihm als seine Angebetete darbietet. Für Arthur, den Vater, bedeutet der Trancezustand hingegen eine Befreiung. Er läßt die Söhne und seine beiden Ehefrauen – die geschiedene und die aktuelle – umgehend im Stich, taucht ab und wird ein Erfolgsautor. Nichts ist so, wie es auf den ersten und selbst auf den zweiten Blick scheint. Arthurs Buchpremiere „Mein Name sei niemand“ ist ein Manifest des Nihilismus und löst eine Selbstmordwelle aus. So weit, so geist- und anspielungsreich.

Kehlmann kann leichthändig erzählen, die unterschiedlichsten Figuren entwickeln, Handlungsfäden spinnen, sie miteinander verknüpfen und wieder entwirren – kurzum: unterhalten. Die Frage ist nur, wozu sein Feuerwerk aus Anspielungen, Querverweisen und Umkehrungen am Ende gut ist.

Die eigentliche Handlung spielt sich an einem einzigen Tag im Jahr 2008 kurz vor Ausbruch der Finanzkrise ab. Kehlmann erzählt sie aus den Perspektiven der vaterlos aufgewachsenen Söhne. Alle drei haben Karriere gemacht und leiden an ihr.

Martin Friedland ist – nicht ganz freiwillig – katholischer Pfarrer geworden. Den Beruf hat er ergriffen, weil es mit den Frauen nicht klappte, was mit der Allgegenwart seiner Mutter zu tun hat. Ersatzweise stopft er sich mit Schokolade voll, wird immer dicker und versieht glaubenslos seinen Dienst in einer ausgezehrten Kirche.

Eric arbeitet als Anlageberater für eine betuchte Klientel, deren Geld er verspekuliert hat. Die Angst vor der Entdeckung seines Schneeballsystems bekämpft er mit einem täglichen Tablettencocktail. Der Zwang, ständig lügen und auf der Hut sein zu müssen, führt zu schizoiden Zuständen.

Mit seinem Zwillingsbruder Iwan bleibt er unsichtbar verbunden. Doch während Eric die Frauen liebt, fühlt Iwan sich zu Männern hingezogen. Ursprünglich wollte er Maler werden, verlegte sich aber, nachdem er seinen Mangel an Talent akzeptiert hatte, auf die Kunstgeschichte. Er hat sich zu einem Kunstfälscher der ganz besonderen Sorte entwickelt. Er propagiert nicht nur das Werk des von ihm entdeckten mittelmäßigen Malers Heinrich Eulenböck, er setzt es gleich eigenhändig fort und wirft immer neue, überraschende Entdeckungen auf den Kunstmarkt, wo Eulenböck als Überwinder einer sinnentleerten Moderne gefeiert wird. Natürlich kommt es zu einer Katastrophe, doch wenigstens für Eric bedeutet der Ausbruch der Finanzkrise eine Lösung aller Probleme ...

Die Brüder stehen für drei Bereiche der Gesellschaft: für Kirche, Wirtschaft und Kunst. Alle drei sind substanzlos. Die Kirche weiß nichts mehr von den letzten Dingen, die Wirtschaft produziert heiße Luft, und die Kunst, anstatt die menschliche Entfremdung momentweise im ästhetischen Erlebnis aufzuheben, funktioniert nach Marktprinzipien. Alles ist Bluff, ein „Fake“, ein Fehler. Und ein Fatum. Zudem steht der Buchstabe „F“ für Familie.

Der Familien- könnte sich zum Gesellschaftsroman weiten. Der Leser aber kommt allmählich ins Grübeln. Während er sich noch fragt, ob die unheimliche Gestalt, die den Brüdern bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet, den Teufel (wie in den „Brüdern Karamasow“ und im „Doktor Faustus“) oder den Tod (wie im „Tod in Venedig“) symbolisieren soll, ereilt ihn die Ahnung, daß die Antwort kaum belangvoller wäre als die Auflösung eines anspruchsvollen Kreuzworträtsels. Denn Kehlmanns hochartifizielle Konstruktion aus Verweisen, Anspielungen, Querverbindungen, ironischen Wendungen und Brechungen genügt sich selbst. Es gibt keine Figuren und keine Konstellationen, die einen Aha-Effekt auslösen und auf neue Weise neue Einsichten vermitteln. Die Personen sind trotz allen Aufwands ohne Geheimnis, und das Buch erschöpft sich unterm Strich im hochintelligenten Kunstgewerbe!

Das mag am Fehlen einer geschichtlichen Perspektive liegen. Das legt ein Vergleich mit mit dem französischem Schriftsteller Michel Houellebecq nahe, der selber oft in der Gefahr des Kunstgewerblichen steht. In Houellebecqs 2010 erschienenem Künstlerroman „Karte und Gebiet“ erscheint am Ende ein Europa, das nur noch als Museum existiert und in weiten Teilen von Vegetation überwuchert wird, wie immer man das Bild deuten mag. Bei Kehlmann hat man den Eindruck, daß er den enormen literatur- und philosophiegeschichtlichen Aufwand nur betreibt, um die letzten, die existentiellen Fragen zu vermeiden.

Die traditionellen bürgerlichen Realisten loteten tiefer! Der alte Dubslav von Stechlin, als er den Tod herannahen fühlt, versucht sich Mut zu machen, indem er sein Hinscheiden als etwas „Gesetzliches“ akzeptiert: „In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sittlichen Menschen und hebt ihn. Er hing dem noch so nach und freute sich, alle Furcht überwunden zu haben. Aber dann kamen doch wieder Anfälle von Angst, und er seufzte: ‘Das Leben ist kurz, aber die Stunde ist lang’.“

Sollte Kehlmann, Jahrgang 1975, sich entschließen, in diese Bereiche vorzudringen, besteht die Aussicht, daß wir die Metamorphose eines brillanten Bestsellerautors zu einem wirklich bedeutenden Schriftsteller erleben.

Daniel Kehlmann: F. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, gebunden, 380 Seiten, 22,95 Euro

Foto: Schriftsteller Daniel Kehlmann: Wozu ist sein Feuerwerk aus Anspielungen, Querverweisen und Umkehrungen am Ende gut?

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