© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/13 / 01. November 2013

Potentiale nicht verschenken
Hochschulabsolventen: Ländliche Regionen kämpfen verstärkt gegen die Abwanderung der Jungakademiker in Ballungsgebiete
Christian Schreiber

Es klingt paradox. In Deutschland tobt ein Kampf um die besten Köpfe für den Arbeitsmarkt. Dabei sollte es an Nachwuchs gar nicht mangeln. Denn die Zahl der Hochschulabsolventen hat sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt.

Im Prüfungsjahr 2012 erwarben an deutschen Hochschulen 413.300 Menschen einen Abschluß. Im Jahr 2002 waren es nur 208.606 Absolventen gewesen. Doch dies ist nur eine Seite der Medaille, da der Anteil der Beschäftigungsfähigen im Alter von 20 bis 64 Jahren in Deutschland bis zum Jahr 2030 um 15 Prozent abnehmen wird.

Alternde Belegschaften und ein signifikanter Fachkräftemangel gehen damit einher: Für die 37,4 Millionen prognostizierten Arbeitsplätze werden dann rund 5,5 Millionen (15 Prozent) Fachkräfte fehlen – davon 2,2 Millionen mit Hochschulabschluß und 2,3 Millionen mit Berufsausbildung. Führende Vertreter der nationalen Wirtschaft haben sich ebenso wie Spitzenpolitiker für eine Anwerbung von hochqualifizierten Einwanderern ausgesprochen, um diese Lücke zu füllen.

Für die deutschen Absolventen bietet die Situation dagegen fast nur Vorteile. Einen problematischen Arbeitsmarkt für junge Akademiker und Fachkräfte gibt es derzeit eigentlich nur bei Juristen, andere Branchen wie die Wirtschaftsinformatik boomen dagegen und locken mit hohen Einstiegsgehältern.

Häufig zieht es die Absolventen in Ballungsgebiete und attraktive Großstädte wie München oder Berlin. Dies schafft vor allem in ländlichen Regionen Probleme. Regionale Initiativen sollen nun gegensteuern.

„25 Prozent der Hochschulabsolventen, die die Region nach dem Studium verlassen, könnten für die Region gewonnen werden“, glaubt Peter Jany, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Bodensee-Oberschwaben. Er zitiert aus der Verbleibstudie, die von der Wirtschafts- und Innovationsförderungsgesellschaft des Landkreises Ravensburg (WiR) und der Hochschule in Weingarten (Baden-Württemberg) durchgeführt wurde.

Für die Studie wurden 1.400 ehemalige Studierende der Hochschule, die dem Alumni-Netzwerk angehören, befragt. Die Studie ergab, daß von den befragten Absolventen, die zu etwa 60 Prozent aus der Region Bodensee-Oberschwaben stammen, zum Befragungszeitpunkt 37 Prozent nicht oder nicht mehr in der Region berufstätig waren. Bei den von außerhalb der Region stammenden Jungakademikern betrug dieser Anteil sogar 81 Prozent. „Das ist natürlich ein unbefriedigender Aspekt“, sagt Professor Jany, der glaubt, daß viele Regionen mit diesen Problemen zu kämpfen haben.

Etwa 25 Prozent der Befragten, die nicht in der Region berufstätig sind, gaben für das Verlassen der Region keine zwingenden Gründe an. Als Argumente wurden zum Beispiel persönliche Gründe oder ein weiterführendes Studium angesehen, als nicht zwingende Gründe galten eine attraktive Stelle beziehungsweise ein attraktives Unternehmen. Dies bedeutet im Umkehrschluß, daß dieses Viertel bei einer geschickten Standort-Werbung in der Region zu halten gewesen wäre. Im baden-württembergischen Ravensburg glaubt man, daß die Studenten frühzeitig an die Region gebunden werden könnten. Regionale Unternehmen sollten mehr mit der Hochschule kooperieren, um so frühzeitig auf den vorhandenen Arbeitsmarkt aufmerksam machen zu können.

Ins Leben gerufen wurde daher bereits die Internetadresse www.karriere-im-sueden.de. Speziell ausgerichtet auf Studenten und Absolventen, die nach Angeboten an Praktika, Studien- und Bachelorarbeiten sowie nach Jobs suchen, finden sich hier ausschließlich Angebote von Firmen, die in der Region ansässig sind. „Damit wollen wir den Studierenden einen raschen Überblick über die verfügbaren Jobs in der Region liefern, so daß diese nicht gezwungen sind, sich woanders umzusehen“, erläutert WiR-Geschäftsführer Hans-Joachim Hölz das Ziel der Jobbörse.

Mag das beschauliche Ravensburg nur ein Beispiel sein, so ist der Konkurrenzkampf der Regionen ein brisantes Thema. Vor allem die Verbände der Industrie- und Handelskammer, in denen die regionalen Unternehmen organisiert sind, haben die Problematik auf die Agenda gesetzt.

So wirbt die IHK in Hannover für eine Veranstaltung mit dem Namen „Kampf um kluge Köpfe – Neue Strategien zur Mitarbeiterrekrutierung und -qualifizierung“, die von einer lokalen Initiative ausgerichtet wird. „Vor dem Hintergrund des sinkenden Nachwuchses stellen sich besonders die kleinen und mittleren Unternehmen schon heute die Frage, wie sie im „Wettbewerb um Kluge Köpfe“ bestehen sollen. Noch schwieriger wird dies in Vorbereitung auf die Zukunft“, heißt es bei der IHK: Gerade die Gruppe der jungen Akademiker hat wirtschaftliche Krisen in der Vergangenheit stets gut überstanden.

Zwar hat die Euro-Problematik bei vielen Unternehmen dazu geführt, daß frei werdende Stellen nicht sofort neu besetzt wurden, doch mittlerweile ist die Nachfrage wieder ungebrochen. „Langfristig sind die Aussichten für junge Akademiker rosig. Wer einen Hochschulabschluß hat, braucht sich keine großen Sorgen zu machen. Schon heute sind nicht einmal drei Prozent der Akademiker arbeitslos. Und die Nachfrage nach Akademikern wird zweifellos in den nächsten Jahren enorm steigen“, erklärte der Arbeitsmarktforscher Joachim Möller in einem Gespräch mit der Zeit.

Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg sieht rosige Zeiten für junge Fachkräfte: „Die Firmen werden sich um gut ausgebildete Leute reißen, sie werden ihnen etwas bieten müssen. Unbefristete Arbeitsplätze zum Beispiel oder attraktive Arbeitszeiten.“

Vor allem die örtlichen Industrie- und Handelskammern sind in dieser Hinsicht äußerst aktiv. Unter dem Motto „Die KarriereRegion – Hoch hinaus mit dem Mittelstand der Metropolregion Rhein-Neckar“ unterstützt beispielswiese die IHK Rhein-Neckar bei den Hochschulmessen der Region ihre Mitgliedsunternehmen bei der Suche nach qualifizierten Nachwuchskräften. Sie organisiert für interessierte Unternehmen einen gemeinsamen Messestand: „So können unsere Mitgliedsunternehmen frühzeitig und für sie kostenlos mit „High Potentials“ in Kontakt kommen“, heißt es auf ihrer Internetseite. Zusätzlich zur Messeteilnahme stellen die interessierten Unternehmen eine Broschüre vor, in der Firmenportraits und Angebote für Diplomarbeiten, Praktika oder offene Stellen zu finden sind.

„Der Kampf um die klugen Köpfe hat schon begonnen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen haben oft das Nachsehen, wenn es um die Einstellung junger Hochschulabsolventen geht“, teilt die IHK mit.

In Fachkreisen ist schon von einem regionalen Verteilungskampf die Rede. „Es läßt sich in der Region mittlerweile beobachten, daß der Prozeß um bestimmte Fachkräfte bereits begonnen hat“, unterstreicht die Augsburger Allgemeine: In der zweitgrößten Stadt Bayerns hat sich ebenfalls eine Gruppe gebildet, die die Stärken des Standorts vermitteln will. „Die Region und ihre Kernbranchen müssen wettbewerbsfähig bleiben und auch Fachkräfte von anderen Standorten der Republik rekrutieren“, heißt es in der Selbstdarstellung der Initiative „Fachkräfte für den Wirtschaftsraum Augsburg“, die von verschiedenen Institutionen der regionalen Wirtschaft getragen wird. Wie bleibt die Region wettbewerbsfähig und wie macht sie sich attraktiver für Fachkräfte aus anderen Regionen? Das ist die entscheidende Zukunftsfrage, auf die wir eine Antwort finden müssen“, sagen die Initiatoren.

Den jungen Absolventen geht es nach einer Umfrage der Unternehmensberatung Ernst & Young dabei nicht in erster Linie um Geld. Für 74 Prozent der befragten Hochschulabsolventen steht ein „intaktes soziales Umfeld an erster Stelle ihrer Werte und Ziele“, heißt es in einer Analyse. Gute Entwicklungsmöglichkeiten, eine vernünftige Balance zwischen Arbeit und Freizeit sowie eine kollegiale Arbeitsatmosphäre seien für den Nachwuchs die wichtigsten Kriterien bei der Arbeitgeberwahl. Die Vergütung folge erst auf Platz fünf. Studenten möchten sich heute viel stärker im Job selbst verwirklichen und fordern ein hohes Maß an Gestaltungsspielraum. Die Unternehmen, die diese Wünsche ernst nähmen, hätten die besten Chancen im Kampf um die Köpfe, glaubt Ernst & Young.

 

Überregionale Attraktivität deutscher Hochschulen

Berlin wies im Wintersemester 2011/2012 den höchsten Wanderungsgewinn mit 27.300 Studenten auf, gefolgt von Hamburg mit einem Wanderungsgewinn von 25.400 Studenten und Nordrhein-Westfalen mit plus 24.100 Studierenden. Sachsen verzeichnet einen Wanderungsgewinn (plus 9.800), Sachsen-Anhalt dagegen ein Minus (3.100). Niedersachsen (minus 45.800), Baden-Württemberg (minus 19.700) und Brandenburg verzeichneten seit Jahren schon Wanderungsverluste in fünfstelliger Höhe. Bayern verbuchte ebenfalls Wanderungsverluste, die innerhalb nur eines Jahres stark gestiegen sind. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) sind das Fächerangebot und Studienkapazitäten, Wohnortnähe sowie Studiengebühren und Studienbedingungen Kriterien für die Wahl der Hochschule. Trotz der Einführung der Studiengebühren in einigen Bundesländern habe sich die Rangordnung der Bundesländer bezüglich der Wanderungssalden der Studenten jedoch in den letzten Jahren nicht merklich verändert.

www.karriere-im-sueden.de

www.destatis.de

Foto: Studienanfänger in einer Vorlesung für Vergleichendes Recht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig (Sachsen): Während und vor allem nach dem Studium zieht es die jungen Leute in die Großstädte

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