© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Nicht jeder denkt deutsch
Doppelte Staatsbürgerschaft: Seit Jahrzehnten stehen sich Union und SPD unversöhnlich gegenüber / Optionsmodell schob Probleme auf die lange Bank
Gerhard Vierfuss

Seit Jahren sorgt die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft für politischen Zündstoff. Die Fronten sind verhärtet. Immer wieder scheiterten die Anträge der Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts und zur Abschaffung des Optionsmodells – also der Pflicht von Einwandererkindern, sich nach der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden – an der Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDP.

Auch in ihren Programmen stehen sich Union und Sozialdemokraten in ihren Positionen unversöhnlich gegenüber. Die Union lehnt die „generelle Hinnahme“ doppelter Staatsbürgerschaften ab. Sie verweist nicht nur darauf, daß die Mehrstaatigkeit „oft mit Problemen bei der Rechtsdurchsetzung auch in zivilen Auseinandersetzungen“ verbunden sei. Vor allem, so die Union weiter, sei die Annahme „unserer Staatsangehörigkeit – verbunden mit der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit“ – ein „starkes Zeichen der Zugehörigkeit“. Der Wille zur Einbürgerung zudem als „Bekenntnis zu unserem Land und den Werten unseres Grundgesetzes“ zu werten.

Dagegen will die SPD das Staatsangehörigkeitsrecht „modernisieren“, die Optionspflicht abschaffen“ und „insgesamt“ die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptieren. Vor allem die Optionspflicht sei ein „integrationspolitischer Mißgriff“ und ein „bürokratisches Monstrum“, das den Kommunen „enorme Verwaltungskosten“ aufbürde.

Bei den Koalitionsgesprächen geht es scheinbar ums Ganze. Dabei war das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht bereits in den vergangenen zwei Jahrzehnten grundlegenden Veränderungen unterworfen. Innerhalb weniger Jahre wurde das bis dahin über lange Zeit in seinem wesentlichen Regelungsgehalt unveränderte Gesetz neu konzipiert. Stichworte hierzu sind: Einbürgerungsanspruch, Hinnahme von Mehrstaatigkeit, Optionsmodell für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern. Hintergrund all dieser Maßnahmen war die Annahme der verantwortlichen Politiker, daß Deutschland ein Einwanderungsland sei und ein hoher Anteil von Ausländern an der Bevölkerung für jede Gesellschaft ein Problem darstelle.

Das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) von 1913 basiert auf dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis, „Blutrecht“), also dem Grundsatz, daß die Staatsangehörigkeit der Eltern durch die Geburt auf die Kinder übertragen wird. Das Gegenmodell stellt das Geburtsortprinzip (ius soli, „Bodenrecht“) dar, dem zufolge die Staatsangehörigkeit eines Kindes unabhängig von der seiner Eltern durch die Geburt auf einem bestimmten Staatsgebiet erworben wird. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht handelt es sich bei dem Abstammungsrecht keineswegs um ein Relikt aus vormodernen Zeiten oder um eine Ausprägung völkischer Ideologie.

Vielmehr war es gerade die Französische Revolution, die das als feudalistisch empfundene ius soli, das die Menschen an den Herrn band, der das Land besaß, durch das ius sanguinis ersetzte; und Preußen übernahm es 1842 aus dem französischen Recht ohne irgend-eine ethnische Komponente, so daß etwa jüdische oder polnische Preußen mitumfaßt wurden, nichtpeußische Deutsche aber nicht. Das RuStAG stellt auch keineswegs einen Sonderfall dar: Zahlreiche Staaten der Erde legen ihrem Staatsangehörigkeitsrecht das Abstammungsprinzip zugrunde; in Europa beispielsweise die skandinavischen Länder und – für die aktuelle Debatte um die doppelte Staatsangehörigkeit nicht ganz unwichtig – auch das nicht EU-Land Türkei.

Zu den tragenden Grundsätzen des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts gehörten bis zum Ende der achtziger Jahre das Prinzip der Ermessenseinbürgerung – die Einbürgerungsrichtlinien aus dem Jahr 1977 sahen für jeden Einzelfall den Nachweis eines „öffentlichen Interesses“ vor – und das der Vermeidung von Mehrstaatigkeit.

Als 1990 mit der deutschen Einigung ein zwingender Grund dafür wegfiel, bei einseitigen Veränderungen der Zusammensetzung des gesamtdeutschen Staatsvolkes Zurückhaltung zu üben, und gleichzeitig der Handlungsdruck aufgrund der hohen Zahl dauerhaft rechtmäßig in Deutschland lebender Ausländer massiv anstieg, wurden in mehreren Etappen beide Prinzipien teils aufgegeben, teils erheblich aufgeweicht.

Den ersten und bereits entscheidenden Schritt stellte die 1990 im Zuge der Einschränkung des Asylgrundrechtes – für die die damalige schwarz-gelbe Koalition auf die Zustimmung des SPD-dominierten Bundesrates angewiesen war – erfolgende Neufassung des Ausländergesetzes dar. In diesem Gesetz enthalten waren Vorschriften zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländer zwischen 16 und 23 Jahren und von Ausländern, die sich seit mindestens 15 Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhielten.

In beiden Fällen sollte einem Einbürgerungsantrag bei Vorliegen bestimmter Bedingungen (unter anderem keine strafrechtlichen Verurteilungen) „in der Regel“ stattgegeben werden. 1993 wurde diese Regeleinbürgerung dann zu einer Anspruchseinbürgerung fortentwickelt. Deren Anteil an der Gesamtzahl aller Einbürgerungen ist seitdem stetig angestiegen.

Ebenfalls 1990 wurde das bis dahin zwingende Erfordernis der Aufgabe oder des Verlustes der bisherigen Staatsangehörigkeit für die Fälle eingeschränkt, in denen dies „nicht oder nur unter besonders schwierigen Bedingungen“ möglich ist. Dies betrifft nicht nur Fälle von Staaten, die eine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit grundsätzlich verweigern, sondern auch Konstellationen, in denen dem Antragsteller „erhebliche Nachteile insbesondere wirtschaftlicher oder vermögensrechtlicher Art“ – Verlust des Erbrechts – drohen. Bei Antragstellern aus einem EU-Staat oder aus der Schweiz wird die Mehrstaatigkeit grundsätzlich hingenommen.

Am 1. Januar 2000 trat das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in Kraft, das das RuStAG in „Staatsangehörigkeitsgesetz“ (StAG) umbenannte und weitere Erleichterungen der Einbürgerung brachte; so wurde die Frist für den Einbürgerungsanspruch von 15 auf acht Jahre verkürzt.

Die Neuerung durch dieses Gesetz bestand jedoch darin, daß neben dem Abstammungsprinzip erstmals auch das Geburtsortprinzip zur Anwendung kam: Kinder ausländischer Eltern, von denen mindestens ein Teil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt, erhalten mit der Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit, unabhängig davon, ob sie zugleich die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern bekommen. Für die Geburtsjahrgänge 1990 bis1999 enthält das Gesetz eine Sonderregelung: Sie erhielten einen befristeten Einbürgerungsanspruch, sofern bei ihrer Geburt die genannte Voraussetzung erfüllt war.

Damit verbunden ist eine Optionspflicht: Wer aufgrund dieser Regelung die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat und zugleich eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, muß sich nach Erreichen der Volljährigkeit, spätestens bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres entscheiden. Wählt er die ausländische oder gibt er innerhalb der fünf Jahre keine Erklärung ab, geht ihm die deutsche Staatsangehörigkeit verloren.

Wenngleich die ersten Optionsverfahren erst Ende 2013 abgeschlossen sein werden, zog das Bundesinnenministerium auf der Grundlage von Forschungsergebnissen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Juni 2012 eine erste Bilanz des von der Opposition kritisierten Optionsmodells: Demnach zeigte die Entscheidung der Optionspflichtigen eine „klare Tendenz“ für die deutsche Staatsangehörigkeit. Weniger als zwei Prozent hätten sich für die ausländische Staatsangehörigkeit entschieden.

Zu denjenigen, die es unterlassen, für eine ihrer beiden Staatsangehörigkeiten zu optieren, äußerte sich das Ministerium nicht. Dem Gesetz zufolge verlieren sie die deutsche Staatsangehörigkeit.

Doch Skeptiker wie der Bremer Politologe Stefan Luft erwarten nicht, daß es dem deutschen Staat gelingen wird, die Regelung durchzusetzen. Voraussichtlich würden viele Betroffene den Rechtsweg gegen den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit beschreiten; die bisherigen Erfahrungen mit dem Ausländerrecht ließen Klagen als nicht aussichtslos erscheinen. Auch sei die öffentliche Empörung vorauszusehen, wenn einem hier geborenen und aufgewachsenen jungen Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werde.

Parallel dazu weist Martin Jungnickel vom Regierungspräsidium Darmstadt darauf hin, daß man es nach dem Jahr 2018 mit bis zu 50.000 Optionsverfahren zu tun haben werde. Dies bedeute, daß das derzeit mit Einbürgerungen beschäftigte Personal im ganzen Bundesgebiet um etwa 30 bis 40 Prozent aufgestockt werden müßte: „Man muß sich die Frage stellen, ob dieser immense Aufwand zur Aufrechterhaltung eines Prinzips, das nach wie vor schon viele Löcher aufweist, wirklich noch angemessen ist.“ Hinsichtlich der „Löcher“ wird von Kritikern wie dem FDP-Politiker Serkan Tören auf den Umstand hingewiesen, daß 51 Prozent der 2011 erfolgten rund 107.000 Einbürgerungen „unter Inkaufnahme der doppelten Staatsbürgerschaft“ umgesetzt wurden.

Diese Kritik aufnehmend, stellte der rot-grün beherrschte Bundesrat im Juli in einer Entschließung nicht nur fest, daß das Staatsangehörigkeitsgesetz „allgemein dringend reformbedürftig“ sowie weitere Reformschritte erforderlich seien, um ein „modernes, praktikables und einbürgerungsfreundliches Staatsangehörigkeitsrecht zu gewährleisten“, sondern plädierte zudem für die „Zulassung der Mehrstaatigkeit in Deutschland“. Doch nicht nur Rot und Grün machen keinen Hehl aus ihrer Interessenlage. Auch die türkischstämmige „Community“ ist sich ihrer Sache sicher.

Denn eine Umfrage des Zentrums für Türkeistudien über das Einbürgerungsverhalten türkeistämmiger Migranten in Nordrhein-Westfalen offenbarte, daß knapp 80 Prozent der Befragten beabsichtigen, einen Antrag auf Wiedereinbürgerung in der Türkei zu stellen, falls die doppelte Staatsangehörigkeit in Deutschland zugelassen wird.

Foto: Die Mannheimer Studentin Merve Gül präsentiert beide Pässe: Ausnahmen entwerten das Optionsmodell

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