© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Erst am Nachmittag kriegen Lügen lange Beine
Forschungsstudie: US-Wissenschaftler wollen herausgefunden haben, daß man sich morgens moralischer verhält
Richard Stoltz

Sind wir morgens moralischer als abends? Bisher hat das noch niemanden interessiert, aber jetzt will ein Forscherteam der Harvard-Universität in Boston (USA) – wie die Fachzeitschrift Psychological Science kürzlich berichtete – herausgefunden haben, daß das tatsächlich der Fall ist. Es gibt einen „Morning Morality Effect“, konstatieren die Wissenschaftler Maryam Kouchaki und Isaac H. Smith, durch den wir von der Natur regelrecht daran gehindert werden, am Morgen zu lügen, zu stehlen, frech zu sein, von Prügeln oder gar Morden zu schweigen.

Die einschlägigen Experimente wurden freilich, wie zu lesen steht, exklusiv mit Studenten durchgeführt, die gemerkt hatten, daß ihre Lehrer nachmittags oftmals schon ziemlich abgeschlafft waren und deshalb, beispielsweise bei Prüfungsfragen, leichter beschummelt werden können als am Morgen. Seriöse Wissenschaft war das also noch nicht. Aber immerhin, die allgemeine Neugier ist geweckt.

Gibt es ihn wirklich, diesen sensationellen „Morning Morality Effect“? Hat Morgenstunde vielleicht nicht nur Gold im Munde, sondern auch Wahrheit, Ehrlichkeit, Anstand? Wachsen den Lügen ihre berüchtigten langen Beine erst nachmittags zu? Darüber möchte man gern mehr wissen. Schließlich ergäben sich bei Bestätigung wahrscheinlich ausgedehnte soziale Konsequenzen. Wichtigste Produktions- und Kommunikationsprozesse würden in die frühen Morgenstunden verlegt, Politiker dürften nur noch morgens sprechen.

Aber näher liegt leider, daß es sich bei der US-Studie lediglich um das Resultat einer forscherlichen Augentäuschung handelt. Sittlichkeit in der Morgenstunde ist, bei Lichte betrachtet, ein reines Zeitproblem. Der Wecker klingelt viel zu früh, man erwacht üblicherweise irgendwie frustriert und unausgeschlafen und möchte sich durchaus negativ austoben, doch es fehlt einfach die Zeit dazu. Nach einer eiligen Morgentoilette schlingt man das Frühstück hinunter, hetzt zu Bahn oder Bus, steht im Stau. Zum Lügen und Betrügen kann man erst später kommen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen