© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Verloren im Niemandsland
Die polnischen Juden wurden im Herbst 1938 zu tragischen Schachfiguren im Konflikt zwischen Warschau und Berlin
Thorsten Hinz

In den Nachrufen auf den im September gestorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hieß es, er sei im Oktober 1938 aus Deutschland nach Polen „deportiert“ worden. Der Begriff irritiert, weil er – vor dem zeitlichen Hintergrund des Dritten Reiches – mit der massenhaften Verschleppung von Menschen zum Zweck ihrer Ermordung verbunden wird. Die Journalisten hatten ihn den Memoiren Reich-Ranickis entlehnt. Er sei, heißt es dort, Opfer der „ersten von den Behörden organisierten Massendeportation von Juden“ geworden.

In beklemmender Anschaulichkeit wird geschildert, wie er – damals ein 18jähriger Gymnasiast, der in Berlin ein möbliertes Zimmer bewohnte – am Morgen des 28. Oktober 1938 von einem Polizisten geweckt und zur Polizeiwache geführt wurde. Nach einigen Stunden brachte man ihn mit Hunderten Schicksalsgefährten zum Schlesischen Bahnhof, wo ein langer Zug auf sie wartete. Die Waggons waren ausgekühlt, doch wenigstens bekam jeder einen Sitzplatz. Bei der Ankunft an der polnischen Grenze herrschte völlige Dunkelheit. Die Männer mußten aussteigen und wurden zusammen mit eintreffenden Juden aus anderen Städten in einen kurzen polnischen Zug gepfercht. Aus Berlin waren, so Reich-Ranickis Beobachtung, nur Männer abgeschoben worden, aus den anderen Städten auch Frauen, einige trugen unter dem Mantel noch ihr Nachthemd. Ehe der Zug sich nach Polen in Bewegung setzte, wurden die Türen plombiert.

Reich-Ranicki war in das Mahlwerk der sogenannten „Polenaktion“ geraten. Sie betraf rund 17.000 Personen, allesamt Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft. Korrekterweise wäre statt von Deportation von einer Massenausweisung bzw. -abschiebung zu reden. Reich-Ranicki hatte es vergleichsweise gut: Er durfte umstandslos nach Polen einreisen und kam bei seinen Eltern unter, die in Warschau lebten. Tausenden anderen wurde von den polnischen Behörden der Grenzübertritt verweigert, so daß sie tagelang im Niemandsland campieren mußten. Zu ihnen gehörten die Eltern des späteren Attentäters Herszel Grynszpan, die 1911 aus Russisch-Polen nach Deutschland eingewandert waren und seitdem in Hannover lebten. Sein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris am 7. November diente Goebbels später als Vorwand, die angeblich „spontanen Aktionen der Bevölkerung“ gegenüber jüdischen Einrichtungen zu rechtfertigen.

Vor und nach dem Ersten Weltkrieg hatten Antisemitismus, Pogrome und Revolutions- und Bürgerkriegswirren viele sogenannte Ostjuden aus Rußland und Polen zur Flucht in Richtung Westen, darunter nach Deutschland, veranlaßt. Sie wurden hier geduldet und unterlagen gemäß internationalem Standard der Ausländergesetzgebung. Sie erhielten eine widerrufliche polizeiliche Aufenthaltsgenehmigung, die großzügig erteilt wurde. Diese Praxis wurde – parallel zur neuen antisemitischen Staatsräson – nach 1933 weitgehend beibehalten.

Das Ansehen dieser Menschen war gering, gerade auch unter assimilierten deutschen Juden. Der Dresdner Philologe Victor Klemperer notierte noch im Januar 1939 in sein Tagebuch: „Denn seit langem strömt aus dem Osten, was entweder zu arm oder zu kulturgierig oder beides ist, nach westlichen Ländern und bildet dort eine Unterschicht ...“

Am 31. März 1938 erließ das polnische Parlament ein Gesetz, wonach Staatsangehörigen, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die polnische Staatsbürgerschaft entzogen werden konnte. Im Oktober 1938 wurde das Gesetz durch eine Anordnung ergänzt, die jeden polnischen Bürger im Ausland aufforderte, bis zum 31. Oktober seinen Paß bei dem für ihn zuständigen Konsulat zu melden und mit einem Kontrollvermerk versehen zu lassen. Nach Fristablauf wurden die Pässe ungültig und ihre staatenlos gewordenen Besitzer verloren die Berechtigung zur Einreise nach Polen.

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, zürnte gegenüber dem polnischen Botschafter Józef Lipski, nun würde dem Deutschen Reich „ein Klumpen von 40 bis 50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß“ fallen. Doch alle Bemühungen, eine Rücknahme der Anordnung oder wenigstens eine Fristverlängerung zu erreichen, waren vergeblich.

Zum einen betrieb die Führung in Warschau selber eine scharf antisemitische Politik. Diese äußerte sich nicht zuletzt in ihrem „Madagaskar-Plan“, der eine Vertreibung polnischer Juden und ihre Ansiedlung auf der afrikanischen Insel vorsah. Eine Expeditions-Kommission unter Major Mieczysław Lepecki, vormaliger Referent von Staatspräsident Piłsudski, hatte 1937 diese Pläne sogar ernsthaft geprüft. Neben der antijüdischen hatte ihre Politik auch eine antideutsche Spitze, eine Spitze mit Widerhaken. Im Auswärtigen Amt gingen in immer kürzeren Abständen die Depeschen aus Warschau ein, in denen der deutsche Botschafter über Maßnahmen zur Entrechtung, Enteignung und letztlich Vertreibung der deutschen Minderheit berichtete. Wirksame Mittel, um den Bedrängten beizustehen, hatte Berlin nicht in der Hand.

Dem Deutschen Reich jetzt Zehntausende staatenlos gemachte polnische Juden zuzuweisen, war perfide gegenüber den Betroffenen und politisch eine glatte Provokation. Sie lief auf die öffentliche Vorführung Hitlers hinaus, die er aus seiner Ideologie und machtpolitischen Logik heraus nicht zulassen konnte. Mit der harschen Reaktion der deutschen Seite war auf jeden Fall zu rechnen.

Der Vorteil aber lag jetzt erst recht bei Polen. Die Maßnahme fügte sich ein in sein „Kalkül mit der deutschen Katastrophe“ (Stefan Scheil). Der rabiate Antisemitismus der Nationalsozialisten hatte längst zu einem ungeheuren Ansehensverlust geführt. Geradezu flehentlich kabelte Botschafter Hans Dieckhoff aus Washington, daß die judenfeindliche Politik eine Verständigung zwischen Deutschland und den USA unmöglich mache. Auch die „Polenaktion“ wurde vom Ausland aufmerksam registriert und zu hundert Prozent auf das deutsche Schuldkonto gesetzt.

Die weitere Eskalation ist bekannt. Mit dem Pogrom vom 9. November 1938 verspielte die deutsche Führung ihren moralischen Restkredit. Die USA, die spätestens seit Roosevelts „Quarantäne“-Rede vom 5. Oktober 1937 als erbitterter Gegner gelten mußten, zogen ihren Botschafter aus Berlin ab. Der polnische Vertreter in Washington, Graf Jerzy Potocki, konnte seiner Regierung im Januar 1939 mitteilen: „Ferner ist es das brutale Vorgehen gegen die Juden in Deutschland und das Emigrantenproblem, die den herrschenden Haß immer neu schüren gegen alles, was irgendwie mit dem deutschen Nationalsozialismus zusammenhängt.“ Warschaus Außenpolitik hingegen würde in den USA als „vorzüglich“ und Polen als „Sieger“ der vorjährigen Herbstkrise eingeschätzt.

Den Preis zahlten Unschuldige wie der junge Reich-Ranicki. Und am Ende war das Heer der europäischen Verlierer nicht mehr zu zählen.

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