© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Unsere kleine Chemiefabrik
Berliner Wissenschaftler klären über die Faszinosa Tabak und Nikotin auf / Sucht nach „positiver Grundstimmung"
Werner Siebert

Warnungen wie „Rauchen kann die Spermatozoen schädigen und schränkt die Fruchtbarkeit ein“ prangen seit Inkrafttreten der Tabakproduktverordnung von 2002 auf deutschen Zigarettenschachteln. Damit wurde die EU-Richtlinie 2001/37 umgesetzt, die Tabakerzeugnisse reglementiert. Da der Konsum nicht spürbar zurückging, beschloß das EU-Parlament im Oktober eine weitere Verschärfung: Horrorbilder von Raucherlungen oder Mundkrebs sollen zusätzlich zu den Warnhinweisen 65 Prozent der Verpackungen bedecken. Diese Maßnahme entspringt nicht purer Menschenfreundlichkeit, sondern soll die immensen Belastungen, die den Gesundheitssystemen aus Krankheiten erwachsen, die der „blaue Dunst“ verursacht, verringern.

Allein in Deutschland wurden 2012 täglich 225 Millionen Zigaretten konsumiert. Der Staat will mit hohen Steuern abschrecken, doch diese Selbstgefährdung seiner Bürger brachte dem Fiskus über 14 Milliarden Euro ein und beflügelt einen milliardenschweren Schwarzmarkt. Obwohl über die Risiken des Nikotingenusses keinerlei Zweifel bestehen, konstatieren die Chemiker Klaus Roth und Sabine Streller (FU Berlin) resigniert: „Die Raucher rauchen unbeeindruckt weiter.“ Ungeachtet aller furchtbarer Erfahrungen bleibe der Raucheranteil in der Bevölkerung beklagenswert hoch: Ein Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen wollen nicht vom Glimmstengel lassen. Damit liegt Deutschland knapp unter dem EU-Schnitt von 28 Prozent Rauchern.

Grund genug für Roth und Streller, sich dem Faszinosum Nikotin einmal fernab der ausdiskutierten medizinischen Fragen zu nähern. Nachdem sie den europäischen „Siegeszug der Zigarette“ seit der Einführung des Tabak im 16. Jahrhundert im kulturhistorischen Zeitraffer präsentiert haben, stellen sie die Tabakpflanze als „kleine Chemiefabrik“ mit erstaunlichen Kapazitäten vor. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sie Nikotin synthetisiert. Der genaue Reaktionsverlauf harrt noch weiterer Aufklärung. Das Einschleusen isotopenmarkierter Verbindungen in den Pflanzenstoffwechsel gestatte aber hinreichend Einsicht in die „meisterliche Art“, mit der die Tabakpflanze „drei Allerweltsaminosäuren“ (Asparaginsäure, Ornithin, Methionin) und durch ein Abbauprodukt der Glucose den Pyridin- und den Pyrrolidinanteil separat aufbaue und endlich zum Nikotin zusammenfüge. Seit den 1950ern haben Chemiker die Geheimnisse dieser Biosynthese Zug um Zug gelüftet. An Menschen hat die Pflanze bei ihrer mit „genialen chemischen Tricks“ erreichten Nikotinproduktion natürlich nicht „gedacht“, sondern an Fraßfeinde, die das giftige Nikotin vertreibt oder vernichtet.

Auch das Rauchen einer Zigarette nötigt den Berliner Forschern professionellen Respekt vor den Leistungen der Tabakpflanze ab. Jedesmal entzünde sich ein „chemisches Großspektakel“, da im Rauch bisher 4.800 Verbindungen identifiziert wurden, von denen 2.800 aus der Pflanze stammen, die übrigen jedoch beim Rauchen entstehen. Viele davon gelten als gesundheitsschädlich, etwa 60 als krebserregend.

Über deren Risiken liegen „unzählige Studien“ vor, so daß sich Roth und Streller auf das Nikotin und die Frage seiner physiologischen Wirkung konzentrieren können. In Sekundenschnelle erreicht dieses „starke Nervengift“ über den eingeatmeten Rauch das gesamte zentrale und periphere Nervensystem. Es greift in die Signalübertragung an den Synapsen ein und kann zu Störungen der neuronalen Muskelkontrolle genauso führen wie zu Herzfrequenz- und Blutdruckerhöhungen, Gefäßverengungen und Kopfschmerzen.

Aber mit gleicher Präzision erzeugt das neurotoxische Nikotin ein Wohlgefühl im Organismus. Denn es löst eine „positive Grundstimmung“ durch Stimulierung des neuronalen „Belohnungssystems“ aus, das sich in den evolutionär älteren, mesolimbischen Strukturen im Mittel- und Vorderhirn befindet. Die Anbindung des Nikotins an diese Hirnteile führt indirekt zur Ausschüttung des „Glückshormons“ Dopamin. Durch einen emotionalen Lernprozeß „gewöhnt“ sich das Belohnungszentrum bereits nach kurzer Zeit daran, daß es Nikotin „braucht“, um sich wohlzufühlen: „Die Sucht beginnt!“ Nikotinhaltige Sprays, Pflaster und E-Zigaretten erweisen sich hingegen als wenig taugliche Surrogate, um den Entzugserscheinungen zu entfliehen.

Gerade die Komplexität der Tabakpflanze und die Wirkungsmacht des Nikotins, die den Chemiker in Staunen und Bewunderung versetzt, begrenzen zugleich die biochemischen Möglichkeiten bei der Suche nach einer Verwendungsform des Nikotins, die ein effektiver Zigarettenersatz sein könnte.

„Starker Tobak – Unsere Lust und Last mit der Zigarette“, in Chemie in unserer Zeit 8/13: onlinelibrary.wiley.com

Foto: Glimmender Zigarillo: Nikotin macht abhängig, Krankheiten verursachen andere Komponenten im Rauch

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